„Es sollte überhaupt keine Grenzen geben.“ Das ist eine Forderung, der man sich dem allgemeinen Sinne nach anschließen kann. Doch was soll sie konkret bedeuten?
Eine Grenze ist allgemein etwas, das zwei verschiedene Gebiete voneinander trennt. So ist etwa der Äquator die Grenze zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre. Der etwas weniger fest definierte „Weißwurstäquator“ trennt hingegen Süd- von Norddeutschland und wahlweise Bayern oder sogar nur Altbayern vom Rest der Welt. Die Benrather und die Speyerer Linie sind die Grenzen, bis zu denen die Zweite Lautverschiebung im deutschen Sprachraum vorgedrungen ist.
Offensichtlich kann man manche dieser Grenzen gar nicht abschaffen, etwa den Äquator, andere nur mit absurden Annahmen, etwa wenn man unsere weißwurstessenden Mitbürger zwangsweise nach Schleswig-Holstein umsiedeln würde und die dortigen Bewohner nach Grönland. Nein, das ist natürlich alles mit der obigen Forderung nicht gemeint. Was dann?
Die einzig sinnige Interpretation des Begriffs ist hier die als „Staatsgrenze“. Eine solche beschreibt, bis wohin sich der Anspruch eines Staates erstreckt, souverän über die dort Wohnenden und ihr Eigentum zu gebieten. Da die Welt im Wesentlichen unter den diversen Staaten aufgeteilt ist, stellt die Grenze des einen Staates fast immer auch die eines anderen dar. Es gibt dabei ein paar Ausnahmen, etwa auf hoher See. Und noch vertrackter sind Fälle, wo sich benachbarte Staaten über den Verlauf einer Grenze nicht einig werden können. Ein skurriles historisches Beispiel wäre hier etwa Neutral-Moresnet. Aber im Großen und Ganzen stimmt die Aussage schon.
Kann man diese Grenzen abschaffen? Solange die Staaten ihre alleinige Oberhoheit über ein Territorium beanspruchen und de facto auch ausüben, dann geht das einfach nicht. Denkbar wäre natürlich, daß Staaten sich ihre Souveränität teilen. Sie könnten sie in gewissen Bereichen an andere Staaten abtreten. Etwa war dies lange Zeit der Fall für die Bundesrepublik Deutschland, der gegenüber die westlichen Allierten gewisse Vorrechte beanspruchten. Aber nur in manchen verqueren Vorstellungen war deshalb die Bundesrepublik buchstäblich ein Teil der USA, Großbritanniens oder Frankreichs. De facto hatte ihr Staat schon recht früh wieder die fast vollständige Souveränität über das von ihm beanspruchte Staatsgebiet.
Denkbar und aus meiner Sicht sogar sehr wünschenswert wäre es auch, daß man innerhalb Europas rechtliche Ordnungen der Staaten von den Territorien abkoppelt. In gewissen Bereichen ist das heute schon der Fall. Eine Firma kann mehr formal ihren Firmensitz in ein anderes Land verlegen und sich so dem Recht eines anderen Staates unterstellen, ohne ansonsten ihren Betrieb wesentlich umzustellen. Hierdurch entsteht eine gewisse Konkurrenz der Staaten, auch wenn diese eher darauf erpicht sind, eine solche durch ein Kartell zu unterbinden. Man könnte weiterdenken und auch den Bürgern das Recht einräumen, sich dem Rechtssystem eines anderen Staates zu unterstellen, vielleicht auch nur in gewissen Bereichen, und das durchaus auch unabhängig vom Standort, sodaß ein Umzug nicht notwendig wäre.
Um die Idee begreiflicher zu machen, ein Beispiel: In der Grenzregion zu den Niederlande sticht es einem ins Auge, daß der niederländische Staat im Baurecht weniger lästige Anforderungen als der deutsche stellt. Häuser in den Niederlanden lassen sich billiger bauen als in Deutschland, ohne daß es deshalb zu irgendwelchen nennenswerten Problemen käme. Der deutsche Staat könnte hier seinen Bürgern das Recht einräumen, ihre Häuser unter niederländischem Baurecht zu errichten. Der niederländische Staat würde sich dann um die Genehmigungsverfahren kümmern, eventuell sogar entsprechende Einrichtungen auf deutschem Gebiet aufbauen.
Es gäbe vermutlich ein paar „Schnittstellen“, die geregelt werden müßten zwischen Deutschland und den Niederlanden. Wenn Sie das niederländische Baurecht verletzen, käme dann das deutsche oder das niederländische Ordnungsamt bei Ihnen vorbei? Und der niederländische Staat würde das wohl auch nicht allein zur Gefälligkeit der Deutschen tun. Hier müßten entsprechende Steuereinnahmen für die Leistung abgetreten werden oder der deutsche Kunde hätte unmittelbar für die Leistung zu bezahlen. Nicht nur das könnte im Sinne der niederländischen Steuerzahler sein, auch daß Kosten über Skaleneffekte sinken. Letztlich könnte es dazu kommen, daß früher oder später weite Teile Deutschlands dem Baurecht nach zu den Niederlanden gehören würden. Auch wenn solche überlappenden Rechtssysteme heute ungewöhnlich erscheinen, war das nicht immer so. Im Mittelalter gab es nebeneinander eine Vielzahl von ihnen, etwa die Lex Mercatoria für den Handelsbereich, das Kirchenrecht für innerkirchliche Anlegenheiten, usw.
Würden aber selbst dann die Grenzen wegfallen? Denkbar wäre, daß Grenzen so unklar würden, daß man sich einem Zustand nähert, wo sie kaum noch zuzuordnen wären; sie würden entbündelt, sodaß sich je nach Bereich unterschiedliche Territorien ergeben, die wesentlich unregelmäßiger und variabler verlaufen würden, als wenn man eine Linie im Sand zieht. Solange Staaten aber noch eine Oberhoheit hätten, würde es weiterhin Grenzen zwischen ihnen geben. Das eine impliziert das andere. Insofern lassen sich Grenzen zwischen Staaten per se nicht abschaffen, sie lassen sich höchstens verschieben. Gewisse von ihnen könnten sogar verschwinden, weil die betreffenden Staaten aufhören oder ihren Anspruch aufgeben. So könnte es beispielsweise im Zuge der europäischen Einigung zu eine Zentralstaat kommen, der die Souveränität in den meisten Bereichen beansprucht, sodaß die heutigen Einzelstaaten mehr zu Gliederungen des Gesamtstaates werden würden, wie etwa die Bundesländer in Deutschland, die ja auch weiterhin Grenzen haben, welche in einem untergeordneten Umfang noch Unterschiede zwischen Rechtsordnungen bedeuten.
Mit anderen Worten: Solange es Staaten gibt, die Ansprüche auf ein gewisses Gebiet erheben, wird es auch Staatsgrenzen geben. Die einzige Alternative wäre hier ein zentral geführter und einheitlicher Weltstaat, was wohl auf absehbare Zeit nicht der Fall sein wird, mal ganz davon abgesehen, ob das wirklich eine so erstrebenswerte Sache wäre.
Nun könnte jemand aus einer anarchistischen Richtung versuchen, den Knoten zu durchschlagen und die Grenzen aus der Welt zu schaffen. Ein Einwand könnte etwa sein, daß Staaten ihre Souveränität zu unrecht beanspruchen. Doch für das obige Argument ist es gar nicht notwendig, die Legitimität eines solchen Anspruchs zu begründen; es genügt völlig, sich darauf zurückzuziehen, daß Staaten de facto eine solche Oberhoheit haben. Das kann auch ein Anarchist wohl nicht bestreiten, sonst bräuchte er keiner zu sein, weil er den gegenwärtigen Zustand bereits für staatenlos hält. Und insofern Staaten de facto, wenn auch vielleicht dann illegitimerweise Souveränität über Territorien beanspruchen, definiert das automatisch auch Grenzen, bis wohin sich dieser Anspruch erstreckt und wo er an den Anspruch eines anderen Staates stößt.
Und wäre es unter anarchistischen Bedingungen denn wirklich anders? Nimmt man Richtungen des Anarchismus aus, die jegliche Ordnung verwerfen, dann wird es doch genauso Einrichtungen geben, die heutigen Rechtsordnungen entsprechen, die auf einem Gebiet Vorrang gegenüber anderen beanspruchen. Ein Anarchosyndikalist würde sich das wohl so vorstellen, daß die Arbeiter die Fabriken übernehmen. Sie würden diese auf irgendeine als richtig empfundene Weise verwalten und sich mit anderen föderieren. Im Gegensatz zu Staaten ginge dies in irgendeinem Sinne auf einer freiwilligen Basis vor sich, weshalb es als legitim erschiene. Aber das ist unerheblich, weil de facto ja doch genauso ein Bereich abgegrenzt würde, für den Bestimmungen gelten. Und „abgrenzen“ bedeutet hier wieder: eine Grenze zu anderen Bereichen definieren. Im Gegenteil: es würde in einer solchen anarchistischen Gesellschaft sogar vermutlich noch viel mehr Grenzen geben, solange die Föderationen nicht die Größe heutiger Staaten erreichen. Formal wären das natürlich keine „Staatsgrenzen“ mehr, aber doch solche, die ihnen in ihrer Bedeutung gleichkämen.
Ganz ähnlich liegt es auch, wenn man den Fall aus einer anarchokapitalistischen Perspektive entwickelt. Hier stünden am Anfang nicht „selbstverwaltete Fabriken“, sondern einzelne Eigentümer, in erster Linie von Grund und Boden, die sich dann freiwillig zusammenschließen. Auch in diesem Fall würden Grenzen definiert, für welches Gebiet gewisse rechtliche Prinzipien gelten. Man mag das für legitim im Vergleich zu Staaten halten; an der Feststellung ändert es aber nichts, daß es sich auch um Grenzen handelte, die denen eines Staates abgesehen von der Frage der Legitimität gleichkämen. Und es ergibt sich wieder dieselbe Folgerung, daß es wohl viel mehr Grenzen als heutzutage geben würde. Bei einer Richtung im Sinne Hans-Hermann Hoppes scheint genau das sogar das angestrebte Ziel zu sein, nämlich an die Stelle von Staaten eine Vielzahl von konservativen Kommunen zu setzen.
Folgt man eher David Friedman oder, soweit er sich festlegt, Michael Huemer, so wäre das nicht unbedingt das zu erwartende Ergebnis einer anarchokapitalistischen Gesellschaft. Vielmehr würden aus dieser Sicht nicht mehr unbedingt territorial gebundene Unternehmen die Staatsfunktionen übernehmen. Unterschiedliche Bereiche könnten dabei auch von unterschiedlichen Anbietern übernommen werden. Wie es zu einem solchen System kommen würde, wird weniger ausgeführt. Michael Huemer meint etwa, daß es sich parallel zu bestehenden Staaten als Ergänzung entwickeln könnte und dann die Staaten außer Gebrauch fallen. Eine andere Variante wäre, ausgehend vom Beispiel des niederländischen Baurechts den beschriebenen Weg weiterzugehen: Die Funktionen der Staaten würden entbündelt und zu Anbietern weren, die auf einem Markt um die Konsumenten werben. Ganz gleich, wie man sich den Übergang vorstellt, könnte es unter solchen Vorzeichen zu einer Situation kommen, daß die impliziert definierten Grenzen so durcheinandergehen, daß sie kaum noch zuzuordnen wären. Und sie würden dann nicht mehr Gebieten entsprechen, an deren Grenze man jemanden aufhalten kann.
Um es zusammenzufassen: Grenzen im Sinne von Staatsgrenzen, dem Gehalt nach und nicht formal, weil sie unbedingt zu Staaten gehören, lassen sich eigentlich fast gar nicht abschaffen. Nur wenn es in einem Weltstaat ein uniformes Rechtssystem gäbe oder in einer gewissen anarchokapitalistischen Gesellschaft sehr viele, die bunt durcheinandergehen, könnte es überhaupt etwas geben, das „keinen Grenzen“ nahekäme. Bejaht man die Legitimität von Staaten, dann bleibt nur der Weltstaat. Verneint man sie, dann folgt noch nicht einmal bei allen anarchistischen Konzeptionen, daß Grenzen verschwinden würden. Je nachdem würden sie sich sogar inflationär vermehren.
Was hat das alles mit offenen Grenzen zu tun?
Eine Kritik, die eine Position für offene Grenzen, und das verstanden als „Staatsgrenzen“, von der Seite angeht, daß sie nicht weitreichend genug sei, weil alle Grenzen abgeschafft gehören, ist entweder nicht durchdacht oder setzt eine extreme Veränderung der heutigen Welt voraus. Hingegen greifen offene Grenzen den Teil an, der sich durchaus auch ohne solche Voraussetzungen verändern läßt: nämlich daß viele Staatsgrenzen heute zumeist weitgehend geschlossen sind. Der relevante Punkt ist eben nicht, daß es Grenzen gibt, sondern daß sie geschlossen gehalten werden. Grenzen, für die das nicht gilt, sind zwar nicht so belanglos wie der Äquator, der Weißwurstäquator oder die Benrather und Speyerer Linie, aber wären es etwa so wie die Grenze zwischen Bayern und Hessen oder auch die zwischen Deutschland und den Niederlanden. Das wäre ein großer Fortschritt gegenüber dem heutigen Zustand. Und deshalb sollte man sich meines Erachtens bei der Kritik auf die Bestimmung „offen“ und nicht auf die „Grenzen“ konzentrieren.