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Mit Mindestlöhnen gegen offene Grenzen?

Vor den letzten Bundestagswahlen stellte sich ein breiter Konsens ein, in Deutschland Mindestlöhne einzuführen. Nach langjährigem Widerstand schlossen sich dem auch Parteien wie die CDU, CSU und die FDP an, von denen man es vielleicht nicht erwartet hätte. Ich habe den Ablauf nicht gut genug verfolgt, um einschätzen zu können, was die Hauptbeweggründe waren. Auf den ersten Blick schien es ein weiterer Schachzug zu sein, die Sozialdemokraten bei ihren Forderungen auszubooten.

Aber ich hätte noch eine andere Vermutung, was durchaus mit Mindestlöhnen auch bezweckt sein könnte: eine Abschottung gegen Menschen in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Wer mit seiner Arbeit nur so wenig produktiv ist, daß er bloß einen sehr niedrigen Lohn erlösen kann, für den ist ein Mindestlohn nicht die Garantie eines höheren Lohnniveaus, sondern ein Arbeitsverbot. Für Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen und hier arbeiten wollen, aber aufgrund von geringeren Sprachkenntnissen oder einem niedrigeren Ausbildungsstand wenig produktiv wären, kann ein Mindestlohn von daher genauso abriegelnd wirken wie eine geschlossene Grenze.

Ein Gegenargument könnte hier sein, daß Mindestlöhne ja gar nicht so wirken, wie ich es voraussetze, und durchaus in der Lage sind, das Lohnniveau anzuheben, ohne daß es dabei zu Beschäftigungsverlusten käme. Viel zitiert sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Card und Krueger aus den USA, die in gewissen Situationen ein solches Ergebnis finden. Auch wenn mir dies vielleicht intuitiv nicht eingeht, würde ich die Möglichkeit zugestehen, daß ich etwas übersehe. Ich übersehe aber nicht, daß es sich bei den in den Arbeiten betrachteten Situationen um eine eher geringe Anhebung eines bestehenden Mindestlohnes handelt. Daß ein solches Ergebnis auch für eine massive Anhebung gelten könnte, das würde ich auf jeden Fall bezweifeln. Wer das vertritt, sollte mir jedenfalls, ohne zu lachen, erklären, daß bei einem Mindestlohn von 100 Euro pro Stunde, einfach nur die Löhne angehoben würden, ohne daß eine einzige Stelle wegfällt. Und wenn es um Mindestlöhne für Einwanderer aus armen Ländern geht, dann sprechen wir über massiv höhere Löhne, als diese wenigstens zu Beginn oft mit ihrer Arbeit erreichen könnten.

Daß man einen hohen Mindestlohn genau mit einer solchen Motivation vertreten kann, zeigt etwa Ron Unz, der sich 1994 erfolglos bemühte, als republikanischer Kandidat für den Posten des kalifornischen Gouverneurs aufgestellt zu werden, und seitdem seine Ziele eher mit Volksabstimmungen durchsetzen möchte. Sein neuestes Hirnkind ist der Vorschlag, den kalifornischen Mindestlohn 2015 auf 10 Dollar pro Stunde und ab 2016 sogar auf 12 Dollar anzuheben. Was seine Beweggründe sind, hat er dabei offen vertreten. Es geht ihm darum, vor allem illegale Einwanderer zu schädigen. Die innere Logik des Vorschlags ist dabei stimmig: Während es schwerfällt, die illegalen Einwanderer an der Grenze aufzuhalten, läßt sich die Einhaltung eines Mindestlohnes wesentlich leichter überwachen und durchsetzen. Arbeitgeber werden durch drakonische Strafen dazu angehalten, sich als Hilfssheriffs des Staates zu betätigen.

Bin ich paranoid, ähnliche Motivationen auch in Deutschland zu vermuten?

Ich brauche nicht weiter als bis zu den deutschen Gewerkschaften zu blicken. Der Vorsitzende von Ver.di Frank Bsirske rechtfertigte einen Mindestlohn 2010 im Vorlauf zur Grenzöffnung für die osteuropäischen Beitrittsländer wie Polen etwa gegenüber der „Berliner Zeitung“ damit, daß sich so „soziale Verwerfungen“ durch Zuwanderung verhindern ließen.

Man muß sich diese Behauptung einmal in das Deutsche übersetzen: Mit den „sozialen Verwerfungen“ sind nur die Deutschen gemeint, die davon betroffen sein könnten, daß vermehrt Konkurrenz auf den Arbeitsmarkt tritt. Es wird nicht darüber nachgedacht, ob denen, für die das wirklich gilt, auch auf anderem und weniger schädlichem Wege geholfen werden könnte. Stattdessen soll der Mindestlohn ganz gezielt gegen diejenigen armen Einwanderer eingesetzt werden, deren Arbeit damit in Deutschland effektiv verboten wird. Richtig, auch für diese werden “soziale Verwerfungen“ unterbunden, aber nur deshalb, weil man ihnen die „soziale Verwerfung“ durch bessere Löhne verbietet und sie unverworfen arm läßt.

Von daher am heutigen Tag der Arbeit die Frage an die Gewerkschaften und alle Vertreter eines Mindestlohnes: Sollte man bei aller zur Schau getragenen Ausländerfreundlichkeit nicht auch konsequent sein und sich anständig Menschen gegenüber verhalten, die das Schicksal haben, ärmer als arme Deutsche zu sein, und sich aus ihrer Armut emporarbeiten möchten? Oder geht es hier im Sinne der Schöpfer des gesetzlichen Feiertags doch nur um die Deutschen?

Ich für meinen Teil stülpe mir hingegen eine rote Mülltüte über, blase in meine Trillerpfeife und rufe nur: Hoch die internationale Solidarität!

Lant Pritchett: Let Their People Come

Wie läßt sich die Armut in der dritten Welt lindern? Das ist die Frage, mit der sich Lant Pritchett in seinem sehr empfehlenswerten Buch Let Their People Come aus dem Jahre 2006 befaßt. Pritchett ist von Haus aus Ökonom, promovierte am MIT und arbeitete dann längere Zeit für die Weltbank. Aktuell lehrt er an der Harvard Kennedy School. Und sein Vorschlag ist, wie der Untertitel lautet: Breaking the Gridlock on Global Labor Mobility. Nicht allein sollte die Grenzen für Kapital und Güter, sondern auch für Arbeit geöffnet werden.

Das Buch beginnt mit einer Bestandsaufnahme, welche Tendenzen für einen wachsenden Druck sorgen werden, Grenzen für Arbeit zu öffnen. Diese werden als fünf “irresistible forces” diskutiert:

  1. Riesige Einkommensunterschiede besonders bei “unskilled labor”, die durch zwangsweisen Ausschluß aufrechterhalten werden.
  2. Unterschiedliche demographische Entwicklungen
  3. Die unvollendete Globalisierung, die Arbeit bislang weitgehend ausnimmt.
  4. Ein wachsender Bedarf an “low-skilled, hard-core non-tradables” — einfacher Arbeit, die nicht über Grenzen gehandelt, sondern nur vor Ort erbracht werden kann, z. B. Dienstleistungen von Frisören, Gärtnern, usw.
  5. Optimale Bevölkerungsgrößen, die sich über die Zeit ändern, und bei denen Abwanderung Druck vermindern kann.

Für den letzten Punkt gibt Lant Pritchett ein interessantes Beispiel: Im 19. Jahrhundert wanderte die Hälfte der irischen Bevölkerung bei offenen Grenzen ab. Dies führte dazu, daß für die verbleibenden Iren das Bruttosozialprodukt pro Kopf in etwa konstant blieb. Anders bei geschlossenen Grenzen:  Die bolivianische Bevölkerung wuchs ohne eine Abwanderungsmöglichkeit im 20. Jahrhundert weiter, obwohl die Grundlage für den vorherigen Wohlstand aus dem Abbau von Rohstoffen schwand. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf sank drastisch ab.

Einen ähnlichen Zusammenhang stellt Pritchett auch anhand der internen Wanderungen in den USA dar. Gewisse Landstriche locken wegen guter Entwicklungsmöglichkeiten Menschen an, aber verlieren diese je nachdem über die Zeit auch wieder. Da es aber keine inneren Grenzen gibt, paßt sich die Bevölkerung an die sich verändernden Bedingungen an. Menschen wandern von den uninteressanten in die interessanten Gebiete ab. Für die Zurückgebliebenen bedeutet das einen eher geringen Rückgang des Wohlstandes, weil Arbeitskräfte den lokalen Markt verlassen können. Auf nationaler Ebene ergeben sich zwar nicht gleiche, aber relativ ähnliche Lebensbedingungen. Manche Gebiete, Ghost Towns, werden sogar wieder ganz entvölkert, weil die wirtschaftliche Grundlage einfach verschwunden ist. Zöge man hier Grenzen ein, so würden sie sich stattdessen in etwas verwandeln, das Pritchett auf Länderebene als “Zombie Countries” bezeichnet: wirtschaftlich tote Gebiete, in denen Menschen festsitzen.

Auf globaler Ebene stehen einem solchen Ausgleich durch offene Grenzen allerdings starke Kräfte entgegen. Lant Pritchett faßt diese als acht “immovable ideas” zusammen und diskutiert deren Stichhaltigkeit:

  1. Nationalität als “legitimer” Grund für Diskriminierung, mit einem sehr treffenden Vergleich der Entrüstung über die Apartheid innerhalb Südafrikas seinerzeit, aber der vollkommenen Gleichgültigkeit über die viel größere globale Apartheid.
  2. Die “moralische”, jedoch eigentlich perverse Einstellung, daß Menschen nur in der Nähe nicht arm sein dürfen, aber gerne weit weg, wo man sie nicht wahrnehmen muß.
  3. Die geistige Fixierung auf das Wohl von Staaten und nicht von Menschen, z. B. wird jemand, der abwandert und sein Leben verbessert, nicht als Gewinn gesehen, sondern als Verlust für den betreffenden Staat.
  4. Die Illusion, daß man Menschen in ihrem Land festhalten und durch andere Mittel allein einen Ausgleich schaffen könnte, beispielsweise durch erleichterten Handel, bessere Mobilität von Kapital oder Entwicklungshilfe.
  5. Die Befürchtung, daß Löhne für Einheimische sinken würden und/oder die Arbeitslosigkeit wächst.
  6. Die Behauptung, daß Einwanderer die Staatsausgaben belasten.
  7. Sorgen um erhöhte Kriminalität und Terrorismus
  8. Und Argumente eines Culture Clashs: “They” are not like “us”.

Lant Pritchett argumentiert zwar gegen die acht Einwände, geht aber davon aus, daß diese sich auf absehbare Sicht als Einstellung des größten Teils der Bevölkerung in den entwickelten Ländern nicht ändern lassen. Von daher sucht er nach Möglichkeiten, im Sinne des Titels die verfahrene Situation zu durchbrechen.

Zunächst stellt er fest, daß die Einwanderung von qualifizierten Arbeitnehmern auf vergleichsweise geringen Widerstand in den entwickelten Ländern trifft. Das läßt sich recht leicht anhand der Standardeinwände erklären, weil hier zwar genauso Löhne durch Zuwanderung gesenkt werden könnten, aber eher für gut Verdienende, was als weniger bedrohlich wahrgenommen wird. Doch gleichzeitig hilft eine solche selektive Wanderung auch wenig, die Armut in der Welt zu lindern, weil die große Masse der Armen nur recht unqualifizierte Arbeit anzubieten hat.

Zu welch widersinnigen Erscheinungen die Beschränkung der Wanderung für wenig Qualifizierte führt, illustiert Pritchett an einem Beispiel: Er und sein Nachbar stellten eines Tages fest, daß sie sich beide einen kleinen Traktor für ihren Garten gekauft hatten. Beim zweiten Nachdenken ging Pritchett auf, daß die Entwicklung solcher Traktoren nur deshalb so interessant in den entwickelten Ländern ist, weil unqualifizierte Arbeit systematisch ausgeschlossen wird. Bei offenen Grenzen würde er wohl eher einen Gärtner einstellen, dem es viel besser als zuhause ginge, und sich seine eigene Zeit und Mühe sparen.

Lant Pritchettt wendet sich dann Versuchen zu, offenere Grenzen für Arbeit ähnlich wie bei der Öffnung der Grenzen für Güter und Kapital im Rahmen internationaler Abkommen auszuhandeln, insbesondere im Rahmen des “GATS mode 4″. Allerdings ist nach Pritchetts Einschätzung eine solche Vorgehensweise nicht sehr erfolgsversprechend, weil beispielsweise Regelungen wie die von “meistbegünstigten Ländern” mit den Vorbehalten der acht “immovable ideas” kollidieren. Er stellt deshalb mehrere Anpassungen vor, die die Widerstände umgehen könnten:

  1. Bilaterale Abkommen anstatt weltweiter Regelungen
  2. Zeitlich begrenzter Aufenthalt ohne regelrechte Einwanderung
  3. Quoten nach Berufsgruppen
  4. Verbesserung der Wirkung auf die Entwicklung des Ausgangslandes
  5. Einbeziehung des Ausgangslandes bei der Umsetzung
  6. Ausdrücklicher Schutz von Menschenrechten für die Wandernden

Nach den Argumenten der vorherigen Abschnitte ist klar, daß Lant Pritchett diese Vorschläge nicht macht, weil er sie für notwendig hält, sondern um auch bei Hinnahme der gängigen Einwände die Lage von armen Menschen zu verbessern. Beispielsweise könnten Vorbehalte wegen der Auswirkungen auf den inländischen Arbeitsmarkt entschärft werden durch eine entsprechende Quotierung, Vorbehalte gegen Einwanderung aus gewissen Regionen durch bilaterale Verträge oder eine zeitliche Befristung.

Leider — aber das ist nicht Pritchetts Schuld — könnte ein solches Regime, das er als Kompromiß anbietet, nicht der erste Schritt in Richtung offener Grenzen sein, sondern gleich der letzte, bei dem nur temporär und punktuell gewisse Lücken im inländischen Arbeitsmarkt gefüllt werden.

Ein historischer Vergleich wäre hier die Entwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Während der Norddeutsche Bund und dann das Kaiserreich eine der liberalsten Gesetzgebungen weltweit hatte, bei der praktisch jeder ohne weiteres einwandern konnte, kam es vermutlich nur aus innenpolitischer Taktiererei Bismarcks ab Mitte der 1880er Jahre zu einer harten Abschottung nach Osten, die ihren Höhepunkt in den Massenabschiebungen von Polen 1885/1886 erreichte.

Als selbst Konservative rebellierten, weil ihnen die polnischen und russischen Arbeiter auf ihren Gütern fehlten, bequemten sich die Nachfolger Bismarcks in den 1890ern zu einer Regelung, die dem Kompromißvorschlag von Pritchett ähnelte: Arbeiter durften nur zeitweise und nach Quoten in gewisse Regionen Deutschlands und mußten über den Winter wieder nach Hause zurückkehren; eine dauerhafte Einwanderung war nicht mehr möglich wie vorher. Und das war es dann auch. Dieses Regime wurde ab jener Zeit nur noch weiter institutionalisiert und perfektioniert. Zu einer Öffnung der Grenzen kam es nicht mehr.

Das soll aber die Leistung von Lant Pritchett keineswegs schmälern. Sein Buch enthält eine Fülle von guten Argumenten. Und er macht auch seine Position klar, die viel weitgehender ist und von der aus er nur einen Kompromiß sucht, um die Lage vieler Menschen auf absehbare Zeit zu verbessern. Vieles daran sollte nicht nur für ein amerikanisches Publikum, an das sich das Buch hauptsächlich wendet, von Interesse sein, sondern auch für ein europäisches.

[Dies ist eine leicht gekürzte Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 11. Juni 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]