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Muß man Einwanderer mögen, um für offene Grenzen zu sein?

Wie Nathan Smith, der bei Open Borders: The Case bloggt, bei seiner Auswertung von Daten aus weltweit durchgeführten Umfragen, den World Values Surveys, feststellte, lautet die Antwort auf die im Titel gestellte Frage nicht notwendigerweise “ja”. So befürworteten 13% derjenigen, die Ausländern überhaupt nicht vertrauten, eine Politik des „let anyone come“. Und sogar unter denen, die Einwanderer lieber nicht als Nachbarn haben wollten, gab es welche, die sich einer solchen Position anschließen konnten.

Das ist vielleicht auf den ersten Blick etwas erstaunlich. Doch ist es deshalb ein Widerspruch? Da die Umfragen keinen Einblick in die Gründe gewähren, aus denen heraus die Befragten eine ablehnende Einstellung gegenüber Einwanderern mit einer Befürwortung von offenen Grenzen kombinierten, kann man hier nur mutmaßen.

Eine Möglichkeit wäre etwa, daß diese Befragten trotz einer gewissen Antipathie doch überwiegend Vorteile für sich sehen, wenn Menschen frei einwandern können. Jemand würde nicht ihre Nähe suchen und hätte eine eher verhaltene oder negative Meinung zu Einwanderern, aber würde trotzdem nicht für geschlossene Grenzen plädieren.

Eine andere Möglichkeit wäre, daß die Befragten mit solchen scheinbar widersprüchlichen Ansichten über ihren Schatten springen und offene Grenzen aus anderen Gründen befürworten, auch wenn sie sich davon nicht unbedingt eigene Vorteile versprechen, ja sogar gewisse Nachteile. Das könnte etwa von einem Rechtsempfinden herrühren, das sich über Befindlichkeiten hinwegsetzt. Weil man jemanden nicht mag, hat man noch lange kein Recht, gegen ihn auf unrechte Weise vorzugehen. Das ist eigentlich nur simpler Anstand.

Viele Abolitionisten im 19. Jahrhundert teilten etwa durchaus die negativen Meinungen ihrer sklavenhaltenden Mitbürger über Schwarze, waren aber gleichzeitig davon überzeugt, daß diese nicht das Unrecht der Sklaverei rechtfertigen konnten. Niemand muß schließlich erst durch seine Vortrefflichkeit beweisen, daß er kein Sklave sein darf. Analog kann man auch den Standpunkt vertreten, daß geschlossene Grenzen ein Unrecht sind, das man niemandem antun darf, selbst wenn er vielleicht kein perfekter Zeitgenosse ist. Um so gegen jemanden vorgehen zu dürfen, müßte man weit stärkere Gründe ins Feld führen, als daß man jemanden nicht leiden mag.

Während die Kombination aus Ablehnung von Einwanderern und Befürwortung von offenen Grenzen so ungewöhnlich ist, daß man nach einer Erklärung suchen muß, sind andere Kombinationen es keineswegs:

  1. Eine negative Haltung gegenüber Einwanderern und die Befürwortung von geschlossenen Grenzen.
  2. Eine positive Haltung gegenüber Einwanderern und trotzdem die Ablehnung von offenen Grenzen.
  3. Eine positive Haltung gegenüber Einwanderern und die Befürwortung von offenen Grenzen.

Daß es jede dieser Kombinationen gibt, zeigt schon einmal, daß die Haltung gegenüber Einwanderern nicht mit der Frage zusammenfällt, wie man sich zu offenen oder geschlossenen Grenzen stellt. Wer natürlich Einwanderer per se für extrem bedrohlich, ja gefährlich hält, der wird daraus schließen, daß man ihren Zuzug verhindern sollte. Aber aus einer positiven Haltung gegenüber Einwanderern folgt nicht, daß jemand sich für offene Grenzen ausspricht. Die zweite Kombination scheint sogar, wenn man die Bekenntnisse vieler Menschen für bare Münze nimmt, die in Deutschland am weitesten verbreitete Einstellung zu sein: „Ich habe nichts gegen Einwanderer, aber …“

Daß man Einwanderer für besonders hervorragende Menschen hält, könnte einen wohl eher dazu bestimmen, offene Grenzen zu befürworten. Vielfach wird von Anhängern und Gegnern deshalb davon ausgegangen, daß man bei einer Position für offene Grenzen eine geradezu idealisierte Vorstellung von Einwanderern haben müßte und daß man diese propagieren sollte, um Menschen für offene Grenzen zu gewinnen. Manch ein Befürworter von offenen oder wenigstens offeneren Grenzen tut hier auch gern den Gefallen und verstrickt sich in den Versuch, die allgemeine Vortrefflichkeit von Einwanderern zu beweisen und jegliche gegenläufigen Tatsachen zu bestreiten.

Ich denke, daß es zu einer solchen Verknüpfung von offenen Grenzen mit einer Idealisierung von Einwanderern keinen Grund gibt. Mitblogger Sebastian Nickel hat in einem Artikel hier zudem die Fallstricke eines solchen Junktims diskutiert. Indem man die Erwartungen sehr hoch ansetzt, schafft man mehr Möglichkeiten zu deren Enttäuschung. Einwanderer sind in der Regel vielleicht ganz normale Menschen, und unter ihnen finden sich von daher eben auch welche, die nicht bewundernswert sind.

Genauso wenig ist es notwendig, jede andere Kultur anzuhimmeln oder sich auch nur für sie zu interessieren, um für offene Grenzen einzutreten. An der deutschen oder europäischen Kultur habe ich auch manches auszusetzen. Genauso wie ich mir das Recht herausnehmen würde, darüber zu urteilen, würde ich mir das Recht ausbedingen, andere Kulturen und ihre Leistungen zu werten. Nicht alles muß mir gefallen, gerade weil ich davon ausgehe, daß eine Idealisierung keine Voraussetzung für offene Grenzen ist. Niemand muß seine Vortrefflichkeit beweisen, keine Kultur, aus der er kommt, keine Religion oder politischen Überzeugung, der er anhängt, muß bewundernswert sein, damit man ihm sein gutes Recht läßt.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Meine eigenen Erfahrungen mit Einwanderern waren weit überwiegend gut, jedenfalls auf dem Niveau wie mit den Einheimischen. Ich habe Leute kennengelernt, die hervorragend sind und wo ich mich jeden Tag freue, daß sie in meiner Nähe leben. Aber ich habe auch einzelne erlebt, die ich ganz schäbig fand und die sich mir gegenüber so verhalten haben. Und ich sehe keinen Grund, diesen Aspekt zu verschweigen oder herunterzuspielen, um für offene Grenzen zu sein. Ja, ich mag diese einzelnen Leute nicht. Daraus folgt eben nur nicht, daß ich ein Recht hätte, sie des Landes zu verweisen oder von vornherein herauszuhalten. Wie gesagt: das ist einfach nur simpler Anstand.

Siehe auch:

Gehen offene Grenzen weit genug?

„Es sollte überhaupt keine Grenzen geben.“ Das ist eine Forderung, der man sich dem allgemeinen Sinne nach anschließen kann. Doch was soll sie konkret bedeuten?

Eine Grenze ist allgemein etwas, das zwei verschiedene Gebiete voneinander trennt. So ist etwa der Äquator die Grenze zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre. Der etwas weniger fest definierte „Weißwurstäquator“ trennt hingegen Süd- von Norddeutschland und wahlweise Bayern oder sogar nur Altbayern vom Rest der Welt. Die Benrather und die Speyerer Linie sind die Grenzen, bis zu denen die Zweite Lautverschiebung im deutschen Sprachraum vorgedrungen ist.

Offensichtlich kann man manche dieser Grenzen gar nicht abschaffen, etwa den Äquator, andere nur mit absurden Annahmen, etwa wenn man unsere weißwurstessenden Mitbürger zwangsweise nach Schleswig-Holstein umsiedeln würde und die dortigen Bewohner nach Grönland. Nein, das ist natürlich alles mit der obigen Forderung nicht gemeint. Was dann?

Die einzig sinnige Interpretation des Begriffs ist hier die als „Staatsgrenze“. Eine solche beschreibt, bis wohin sich der Anspruch eines Staates erstreckt, souverän über die dort Wohnenden und ihr Eigentum zu gebieten. Da die Welt im Wesentlichen unter den diversen Staaten aufgeteilt ist, stellt die Grenze des einen Staates fast immer auch die eines anderen dar. Es gibt dabei ein paar Ausnahmen, etwa auf hoher See. Und noch vertrackter sind Fälle, wo sich benachbarte Staaten über den Verlauf einer Grenze nicht einig werden können. Ein skurriles historisches Beispiel wäre hier etwa Neutral-Moresnet. Aber im Großen und Ganzen stimmt die Aussage schon.

Kann man diese Grenzen abschaffen? Solange die Staaten ihre alleinige Oberhoheit über ein Territorium beanspruchen und de facto auch ausüben, dann geht das einfach nicht. Denkbar wäre natürlich, daß Staaten sich ihre Souveränität teilen. Sie könnten sie in gewissen Bereichen an andere Staaten abtreten. Etwa war dies lange Zeit der Fall für die Bundesrepublik Deutschland, der gegenüber die westlichen Allierten gewisse Vorrechte beanspruchten. Aber nur in manchen verqueren Vorstellungen war deshalb die Bundesrepublik buchstäblich ein Teil der USA, Großbritanniens oder Frankreichs. De facto hatte ihr Staat schon recht früh wieder die fast vollständige Souveränität über das von ihm beanspruchte Staatsgebiet.

Denkbar und aus meiner Sicht sogar sehr wünschenswert wäre es auch, daß man innerhalb Europas rechtliche Ordnungen der Staaten von den Territorien abkoppelt. In gewissen Bereichen ist das heute schon der Fall. Eine Firma kann mehr formal ihren Firmensitz in ein anderes Land verlegen und sich so dem Recht eines anderen Staates unterstellen, ohne ansonsten ihren Betrieb wesentlich umzustellen. Hierdurch entsteht eine gewisse Konkurrenz der Staaten, auch wenn diese eher darauf erpicht sind, eine solche durch ein Kartell zu unterbinden. Man könnte weiterdenken und auch den Bürgern das Recht einräumen, sich dem Rechtssystem eines anderen Staates zu unterstellen, vielleicht auch nur in gewissen Bereichen, und das durchaus auch unabhängig vom Standort, sodaß ein Umzug nicht notwendig wäre.

Um die Idee begreiflicher zu machen, ein Beispiel: In der Grenzregion zu den Niederlande sticht es einem ins Auge, daß der niederländische Staat im Baurecht weniger lästige Anforderungen als der deutsche stellt. Häuser in den Niederlanden lassen sich billiger bauen als in Deutschland, ohne daß es deshalb zu irgendwelchen nennenswerten Problemen käme. Der deutsche Staat könnte hier seinen Bürgern das Recht einräumen, ihre Häuser unter niederländischem Baurecht zu errichten. Der niederländische Staat würde sich dann um die Genehmigungsverfahren kümmern, eventuell sogar entsprechende Einrichtungen auf deutschem Gebiet aufbauen.

Es gäbe vermutlich ein paar „Schnittstellen“, die geregelt werden müßten zwischen Deutschland und den Niederlanden. Wenn Sie das niederländische Baurecht verletzen, käme dann das deutsche oder das niederländische Ordnungsamt bei Ihnen vorbei? Und der niederländische Staat würde das wohl auch nicht allein zur Gefälligkeit der Deutschen tun. Hier müßten entsprechende Steuereinnahmen für die Leistung abgetreten werden oder der deutsche Kunde hätte unmittelbar für die Leistung zu bezahlen. Nicht nur das könnte im Sinne der niederländischen Steuerzahler sein, auch daß Kosten über Skaleneffekte sinken. Letztlich könnte es dazu kommen, daß früher oder später weite Teile Deutschlands dem Baurecht nach zu den Niederlanden gehören würden. Auch wenn solche überlappenden Rechtssysteme heute ungewöhnlich erscheinen, war das nicht immer so. Im Mittelalter gab es nebeneinander eine Vielzahl von ihnen, etwa die Lex Mercatoria für den Handelsbereich, das Kirchenrecht für innerkirchliche Anlegenheiten, usw.

Würden aber selbst dann die Grenzen wegfallen? Denkbar wäre, daß Grenzen so unklar würden, daß man sich einem Zustand nähert, wo sie kaum noch zuzuordnen wären; sie würden entbündelt, sodaß sich je nach Bereich unterschiedliche Territorien ergeben, die wesentlich unregelmäßiger und variabler verlaufen würden, als wenn man eine Linie im Sand zieht. Solange Staaten aber noch eine Oberhoheit hätten, würde es weiterhin Grenzen zwischen ihnen geben. Das eine impliziert das andere. Insofern lassen sich Grenzen zwischen Staaten per se nicht abschaffen, sie lassen sich höchstens verschieben. Gewisse von ihnen könnten sogar verschwinden, weil die betreffenden Staaten aufhören oder ihren Anspruch aufgeben. So könnte es beispielsweise im Zuge der europäischen Einigung zu eine Zentralstaat kommen, der die Souveränität in den meisten Bereichen beansprucht, sodaß die heutigen Einzelstaaten mehr zu Gliederungen des Gesamtstaates werden würden, wie etwa die Bundesländer in Deutschland, die ja auch weiterhin Grenzen haben, welche in einem untergeordneten Umfang noch Unterschiede zwischen Rechtsordnungen bedeuten.

Mit anderen Worten: Solange es Staaten gibt, die Ansprüche auf ein gewisses Gebiet erheben, wird es auch Staatsgrenzen geben. Die einzige Alternative wäre hier ein zentral geführter und einheitlicher Weltstaat, was wohl auf absehbare Zeit nicht der Fall sein wird, mal ganz davon abgesehen, ob das wirklich eine so erstrebenswerte Sache wäre.

Nun könnte jemand aus einer anarchistischen Richtung versuchen, den Knoten zu durchschlagen und die Grenzen aus der Welt zu schaffen. Ein Einwand könnte etwa sein, daß Staaten ihre Souveränität zu unrecht beanspruchen. Doch für das obige Argument ist es gar nicht notwendig, die Legitimität eines solchen Anspruchs zu begründen; es genügt völlig, sich darauf zurückzuziehen, daß Staaten de facto eine solche Oberhoheit haben. Das kann auch ein Anarchist wohl nicht bestreiten, sonst bräuchte er keiner zu sein, weil er den gegenwärtigen Zustand bereits für staatenlos hält. Und insofern Staaten de facto, wenn auch vielleicht dann illegitimerweise Souveränität über Territorien beanspruchen, definiert das automatisch auch Grenzen, bis wohin sich dieser Anspruch erstreckt und wo er an den Anspruch eines anderen Staates stößt.

Und wäre es unter anarchistischen Bedingungen denn wirklich anders? Nimmt man Richtungen des Anarchismus aus, die jegliche Ordnung verwerfen, dann wird es doch genauso Einrichtungen geben, die heutigen Rechtsordnungen entsprechen, die auf einem Gebiet Vorrang gegenüber anderen beanspruchen. Ein Anarchosyndikalist würde sich das wohl so vorstellen, daß die Arbeiter die Fabriken übernehmen. Sie würden diese auf irgendeine als richtig empfundene Weise verwalten und sich mit anderen föderieren. Im Gegensatz zu Staaten ginge dies in irgendeinem Sinne auf einer freiwilligen Basis vor sich, weshalb es als legitim erschiene. Aber das ist unerheblich, weil de facto ja doch genauso ein Bereich abgegrenzt würde, für den Bestimmungen gelten. Und „abgrenzen“ bedeutet hier wieder: eine Grenze zu anderen Bereichen definieren. Im Gegenteil: es würde in einer solchen anarchistischen Gesellschaft sogar vermutlich noch viel mehr Grenzen geben, solange die Föderationen nicht die Größe heutiger Staaten erreichen. Formal wären das natürlich keine „Staatsgrenzen“ mehr, aber doch solche, die ihnen in ihrer Bedeutung gleichkämen.

Ganz ähnlich liegt es auch, wenn man den Fall aus einer anarchokapitalistischen Perspektive entwickelt. Hier stünden am Anfang nicht „selbstverwaltete Fabriken“, sondern einzelne Eigentümer, in erster Linie von Grund und Boden, die sich dann freiwillig zusammenschließen. Auch in diesem Fall würden Grenzen definiert, für welches Gebiet gewisse rechtliche Prinzipien gelten. Man mag das für legitim im Vergleich zu Staaten halten; an der Feststellung ändert es aber nichts, daß es sich auch um Grenzen handelte, die denen eines Staates abgesehen von der Frage der Legitimität gleichkämen. Und es ergibt sich wieder dieselbe Folgerung, daß es wohl viel mehr Grenzen als heutzutage geben würde. Bei einer Richtung im Sinne Hans-Hermann Hoppes scheint genau das sogar das angestrebte Ziel zu sein, nämlich an die Stelle von Staaten eine Vielzahl von konservativen Kommunen zu setzen.

Folgt man eher David Friedman oder, soweit er sich festlegt, Michael Huemer, so wäre das nicht unbedingt das zu erwartende Ergebnis einer anarchokapitalistischen Gesellschaft. Vielmehr würden aus dieser Sicht nicht mehr unbedingt territorial gebundene Unternehmen die Staatsfunktionen übernehmen. Unterschiedliche Bereiche könnten dabei auch von unterschiedlichen Anbietern übernommen werden. Wie es zu einem solchen System kommen würde, wird weniger ausgeführt. Michael Huemer meint etwa, daß es sich parallel zu bestehenden Staaten als Ergänzung entwickeln könnte und dann die Staaten außer Gebrauch fallen. Eine andere Variante wäre, ausgehend vom Beispiel des niederländischen Baurechts den beschriebenen Weg weiterzugehen: Die Funktionen der Staaten würden entbündelt und zu Anbietern weren, die auf einem Markt um die Konsumenten werben. Ganz gleich, wie man sich den Übergang vorstellt, könnte es unter solchen Vorzeichen zu einer Situation kommen, daß die impliziert definierten Grenzen so durcheinandergehen, daß sie kaum noch zuzuordnen wären. Und sie würden dann nicht mehr Gebieten entsprechen, an deren Grenze man jemanden aufhalten kann.

Um es zusammenzufassen: Grenzen im Sinne von Staatsgrenzen, dem Gehalt nach und nicht formal, weil sie unbedingt zu Staaten gehören, lassen sich eigentlich fast gar nicht abschaffen. Nur wenn es in einem Weltstaat ein uniformes Rechtssystem gäbe oder in einer gewissen anarchokapitalistischen Gesellschaft sehr viele, die bunt durcheinandergehen, könnte es überhaupt etwas geben, das „keinen Grenzen“ nahekäme. Bejaht man die Legitimität von Staaten, dann bleibt nur der Weltstaat. Verneint man sie, dann folgt noch nicht einmal bei allen anarchistischen Konzeptionen, daß Grenzen verschwinden würden. Je nachdem würden sie sich sogar inflationär vermehren.

Was hat das alles mit offenen Grenzen zu tun?

Eine Kritik, die eine Position für offene Grenzen, und das verstanden als „Staatsgrenzen“, von der Seite angeht, daß sie nicht weitreichend genug sei, weil alle Grenzen abgeschafft gehören, ist entweder nicht durchdacht oder setzt eine extreme Veränderung der heutigen Welt voraus. Hingegen greifen offene Grenzen den Teil an, der sich durchaus auch ohne solche Voraussetzungen verändern läßt: nämlich daß viele Staatsgrenzen heute zumeist weitgehend geschlossen sind. Der relevante Punkt ist eben nicht, daß es Grenzen gibt, sondern daß sie geschlossen gehalten werden. Grenzen, für die das nicht gilt, sind zwar nicht so belanglos wie der Äquator, der Weißwurstäquator oder die Benrather und Speyerer Linie, aber wären es etwa so wie die Grenze zwischen Bayern und Hessen oder auch die zwischen Deutschland und den Niederlanden. Das wäre ein großer Fortschritt gegenüber dem heutigen Zustand. Und deshalb sollte man sich meines Erachtens bei der Kritik auf die Bestimmung „offen“ und nicht auf die „Grenzen“ konzentrieren.

Offene Grenzen und das Recht auf Asyl

Rothkaeppchen

Im folgenden soll es darum gehen, zwei Konzepte miteinander zu vergleichen, die zwar in denselben Zusammenhang gehören, aber doch nicht zusammenfallen. In der Debatte werden sie allerdings oft vermischt. Daß das nicht immer vorteilhaft ist, soll schließlich aufgezeigt werden.

„Offene Grenzen“ stehen für einen Zustand, bei dem die Ein- und Auswanderung aus einem Land im Zweifelsfall frei ist. Jeder darf dorthin reisen, sich niederlassen oder eine Arbeit aufnehmen; jeder darf das Land verlassen. Zulässig könnten dabei allerdings bestimmte Beschränkungen der Bewegungsfreiheit sein, die für In- und Ausländer gleichermaßen gelten, etwa um einen Verdächtigen festzusetzen oder einen Verurteilten einzusperren. Ob er dabei in die Obhut des betreffenden Staates kommt oder eines anderen, sollte erst einmal keinen Unterschied machen. Eine Abschiebung ist von daher unter engen Bedingungen auch bei offenen Grenzen denkbar.

Besteht etwa ein entsprechendes Abkommen und liegen gute Gründe vor, so kann etwa ein flüchtiger Verbrecher einem anderen Staat überstellt werden, genauso wie zwischen verschiedenen Gliederungen eines Staates, etwa den deutschen Bundesländern. Beschränkungen kann es dabei natürlich geben, weil der eine Staat die Gründe des anderen Staates nicht anerkennt, beispielsweise weil das „Verbrechen“ im Inland keines ist oder im anderen Land Folter oder eine wesentlich härtere Strafe drohen. Ob ein Staat in solchen Fällen niemals ausliefert, nur unter bestimmten Umständen oder sogar immer auf Anfrage eines anderen Staates, darüber folgt aus dem Konzept der „offenen Grenzen“ zunächst einmal nichts.

Hier setzt ein Recht auf Asyl an, das unter bestimmten Umständen jemandem Schutz gewährt, zumeist bei Verfolgung aus politischen und diesen ähnlichen Gründen. Jemand darf nun nicht mehr an einen anderen Staat, jedenfalls nicht den, vor dem ihm Schutz geboten wird, ausgeliefert werden. Zudem könnte dem Asylanten auch Schutz gewährt werden vor Übergriffen, etwa wenn Häscher hinter ihm hergeschickt würden. Vorläufer eines Asylrechtes lassen sich dabei bis in das Altertum zurückverfolgen. So boten verschiedene Tempel in Griechenland Sklaven Schutz vor dem Zugriff durch Sklavenhalter, die sie mißhandelten. Später gab es im Mittelalter die Einrichtung, daß sich Verfolgte — durchaus auch jene, die ein regelrechtes Verbrechen begangen hatten — in eine Kirche flüchten durften. Allerdings war der Schutz dann meist nur vorübergehend: der Beschützte mußte sich nach einer Frist entscheiden, ob er sich selbst ausliefern oder seine Sünden bekennen und das Land verlassen wollte.

Ein Asylrecht im heutigen Sinne wurde erst später, nämlich erstmals als Artikel 120 der französischen Verfassung von 1793 verbrieft. Viele Staaten übernahmen solche Regelungen über die Zeit. Artikel 16a des Grundgesetzes erklärt ein solches Recht für Deutschland. Und in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948 wurde ein Recht auf Asyl allseits anerkannt.

Das klassische Land, das Verfolgten jeder Couleur Asyl gewährte, war lange die Schweiz. So flüchteten unter dem Sozialistengesetz viele deutsche Sozialdemokraten dorthin. Das Hauptorgan der Partei — „Der Sozialdemokrat“ — wurde aus Zürich heraus veröffentlicht. Und die Schweiz widerstand für ein ganzes Jahrzehnt dem massiven Druck Bismarcks, der durch seine offiziöse Presse Drohungen lancierte, man wolle die Schweiz annektieren. Die Sozialdemokraten wurden dann 1888 immer noch nicht ausgeliefert, sondern konnten unbehelligt hauptsächlich nach Großbritannien weiterziehen, bis das Sozialistengesetz 1890 nicht mehr verlängert wurde.

Dankbar erkannte das August Bebel an:

Nachdem die erste Überraschung bei unseren Gegnern vorüber war, brach in der gegnerischen Presse eine Hetze gegen die Schweiz los, »Kreuzzeitung« und »Reichsbote« voran. Sie verlangten die Ausweisung der Verschwörer aus der Schweiz und rieten zu dem Versuch, einen Hochverratsprozeß zu inszenieren. Aber das Verlangen der »Kreuzzeitung« und ähnlicher Organe, die Schweiz solle das Asylrecht mißachten und politisch mißliebige Personen ausweisen, hatte nur zur Folge, daß der im September tagende Schweizer Juristentag sich sehr entschieden für das Asylrecht aussprach. Der Grundsatz der Nichtauslieferung politischer Verbrecher sei unbeschränkt aufrechtzuerhalten. Die Schweiz solle in der Asylgewährung weitherzige Grundsätze betätigen, aber Spione, Agents provocateurs und ähnliches Gesindel mit Grund wegweisen. Ausweisung dürfe niemals einem fremden Staat zu Gefallen verhängt werden.

Wie man aus dem Beispiel der Schweiz im 19. Jahrhundert ersieht, kann ein Asylrecht auch bei offenen Grenzen gelten, die es im Wesentlichen damals gab. Es geht dabei nicht so sehr darum, daß jemand in das Land gelangen und dort bleiben kann, sondern darum, daß er nicht an einen anderen Staat ausgeliefert werden darf. Entsprechend ist ein Recht auf Asyl grundsätzlich auch unter mehr oder minder geschlossenen Grenzen denkbar. Natürlich gibt es eine gewisse Spannung. Etwa müßte ein Asylbewerber gleich an der Grenze sein Recht geltend machen können, wenn er dies nicht schon aus dem Ausland vermag. Da dies für Deutschland heutzutage nur möglich ist, wenn er auf dem Luftwege einreist oder vielleicht auf dem Seewege, weil es fast keine Grenzposten an den Landgrenzen mehr gibt, müßte er je nachdem zunächst einmal illegal einreisen, um dann erst Asyl zu beantragen.

Unter offenen Grenzen wäre ein Recht auf Asyl ein Privileg für gewisse Einwanderer. Sie könnten nicht ausgeliefert werden und hätten auch einen Anspruch auf Schutz vor Übergriffen aus dem Ausland. Zudem könnten sie ein Anrecht auf besondere Leistungen haben, wie etwa auf eine medizinische und psychologische Versorgung sowie Unterstützung finanzieller oder sonstiger Art, die anderen Einwanderern nicht zustehen würden.

Wie bis hierhin auseinandergesetzt wurde, sind also offene Grenzen und ein Recht auf Asyl zwei zwar miteinander einhergehende, aber doch unterschiedliche Konzepte. Ein Recht auf Asyl könnte es grundsätzlich auch unter weitgehend geschlossenen Grenzen geben. Umgekehrt könnte man sich genauso vorstellen, daß es offene Grenzen ohne ein Recht auf Asyl gibt. In der Debatte verschwimmen allerdings die beiden Konzepte oft. Hierfür gibt es mehrere Gründe:

  • Asyl als typische Form der Einwanderung. Aktuell sind die Grenzen für Einwanderer von außerhalb Europas weitgehend geschlossen, auch wenn die offenen Grenzen innerhalb Europas vielleicht einen anderen Eindruck vermitteln könnten. Eine und vielleicht die wesentliche Ausnahme ist dabei die Einwanderung unter Anrufung des Asylrechts. Es gibt zwar noch andere Wege, wie etwa eine Einwanderung als Kontingentflüchtling oder als Aussiedler, aber Einwanderung von außerhalb Europas scheint mit Asyl im Wesentlichen zusammenzufallen. Gäbe es andere Möglichkeiten für Einwanderung, so würde der Weg über das Asylrecht wohl eher in den Hintergrund treten.
  • Was man sieht und was man nicht sieht. Das Schicksal von Asylbewerbern und Asylanten ist relativ sichtbar. Abschiebungen führen drastisch vor Augen, was Zwang in diesem Zusammenhang bedeutet. Insofern hat man den Mißstand gewissermaßen „unter der Nase“. Hier greift eine Verfügbarkeitsheuristik, die das Naheliegende als das Typische ansetzt. Die Empörung über das, was man sieht, ist ganz zurecht groß. Was man allerdings nicht sieht, sind die Menschen, die es gar nicht einmal bis zu diesem Punkt schaffen oder die — wie gewollt abgeschreckt — es gar nicht erst versuchen.
  • Asyl als Weg des geringsten politischen Widerstands. Daß ein politisch oder ähnlich Verfolgter Schutz gewährt bekommt, ist relativ wenig umstritten, weil der Asylant sich gewissermaßen einen Anspruch auf Hilfe erworben hat. Selbst wenn ist das Asylrecht als Bestandteil des Grundgesetzes nur schwer aus der Welt zu schaffen. Und so ergibt sich eine Neigung, eine weitergehende Öffnung der Grenzen durch Umdeutung des Asylrechts herbeizuführen, etwa indem man auf den relativ vagen Begriff von “Flüchtlingen” rekurriert und auch andere Gründe konstruiert, die einen analogen Anspruch begründen sollen. Bei offenen Grenzen würde ein Recht zur Einwanderung hingegen jedem zustehen (bis auf gewisse wohlbegründete Ausnahmen), ohne daß ein besonderer Anspruch darauf begründet werden müßte.
  • Asylbewerber als dubiose Einwanderer. Auch für Gegner von Einwanderung kommt eine Gleichsetzung von offenen Grenzen und Asylrecht gelegen. Wenn unter geschlossenen Grenzen das Asylrecht fast der einzige Weg für Einwanderung von außerhalb Europas ist, darf man sich gar nicht wundern, daß auch viele kommen, die im strikten Sinne des Asylrechts keinen Anspruch haben. Man mag darüber diskutieren, ob hier Verfolgung je nachdem zu eng ausgelegt wird; aber selbst wenn ist es wohl richtig, daß die meisten Anträge auf Asyl unbegründet sind. Von daher ergibt sich ein Bild von Einwanderern als Betrüger, weil sie unwahre Behauptungen vorschützen.

Schlagworte wie „Asylmißbrauch“, „Scheinasylanten“ oder „Asylbetrüger“ sind zwar polemisch und auch herabsetzend gemeint, aber im engen legalen Sinne vielleicht nicht ganz falsch. Das Problem liegt nur woanders, weil Menschen durch die Gesetze ihr Recht im Sinne von Gerechtigkeit verwehrt wird. Man kann in einem solchen Falle durchaus argumentieren, daß es legitim ist, illegitime Gesetze zu umgehen, wie es etwa Ilya Somin unlängst getan hat. Doch der erste Eindruck ist natürlich, daß hier mit den Gesetzen auch das Recht mißachtet wird. Und dann ist ein solches Argument zur Legitimität von Illegalität in einem rechtspositivistisch geprägten Land wie Deutschland nicht unbedingt eingängig. In eine ungünstige Lage geraten dabei auch diejenigen, die das Asylrecht aufdehnen wollen. Entweder verstricken sie sich in unhaltbare Definitionen des Begriffs der „Verfolgung“ oder sie lassen allzu sehr durchblicken, daß das Asylrecht nur ein Mittel zum Zweck sein soll. Diese inhärente Unehrlichkeit wird von ihren Gegner dann genüßlich auseinandergenommen.

Aus der Sicht einer Position für offene Grenzen ist es ja nicht verkehrt, daß vielleicht auch mehr Menschen im Zuge des Asylrechts einwandern können, als das Recht an und für sich deckt. Aber man muß schon fragen, ob es wirklich zielführend ist, in dieser Richtung vorwärtszudrängen. Der nicht ganz falsche Eindruck, daß viele der eingereichten Asylanträge grundlos waren, führte in den 1990er Jahren zu einem Rückstoß gegen das Asylrecht insgesamt. Im Deutschen nennt sich eine solche Beschränkung dann eine „Verschärfung“, auch wenn eine Verschärfung eines Rechtes dem Wortsinne nach genau das Gegenteil sein sollte. Das wirkliche Problem nicht anzugehen und stattdessen das Asylrecht zu einem Recht auf begrenzte Einwanderung umzufunktionieren, wirkte hier letztlich eher kontraproduktiv.

Was folgt nun, wenigstens nach meiner Ansicht, für den Vertreter offener Grenzen?

Zum einen sollte man nicht an der Verwirrung der Begriffe mitarbeiten, nur weil man sich auf kurze Sicht davon eine gewisse Öffnung der Grenzen verspricht. Es ist sicherlich wünschenswert, daß das Asylrecht erhalten bleibt oder sogar wieder in den alten Zustand vor dem „Asylkompromiß“ von 1993 zurückzuversetzt wird. Die Auslegung sollte möglichst weit sein, die Bewerber nicht weggepfercht und ihnen nicht auf unwürdige Weise das Recht abgesprochen werden, mit ihrer Arbeit selbst für sich zu sorgen. Auch abgelehnte Asylbewerber sollten bleiben dürfen und Abschiebungen unterbleiben. Hier muß man sich gar nicht gegen die oft erhobenen Forderungen stellen, im Gegenteil.

Aber man sollte nicht versuchen, all diese Dinge durch eine Überbürdung des Konzeptes Asyl zu bewerkstelligen. Stattdessen muß einfach die grundsätzlich andere Frage aufs Tapet kommen, wie geschlossen oder offen die Grenzen allgemein sein sollten. Selbst mit allem Aufdehnen des Asylrechts kommt man hier nämlich nicht wirklich weiter. Und schlimmer noch: man bringt sich noch je nachdem in eine argumentativ sehr ungünstige Lage, wenn man nicht offen das ausspricht, was man eigentlich vertritt.

In diesem Sinne: Nicht offene Grenzen durch das Asylrecht, sondern offene Grenzen und das Recht auf Asyl.

Anmerkungen

  • Der knappe Ausdruck „Asylant“ ist aus dem Sprachgebrauch zurückgezogen worden, weil Begriffe auf „-ant“ angeblich automatisch negativ besetzt seien. Ich verwende ihn ohne jede beabsichtigte Wertung für diejenigen, die Asyl gewährt bekommen haben, weil ich diese Behauptung einfach nicht nachvollziehen kann. Beim ebenso neutralen Begriff „Praktikant“ ist mir eine solche Sensibilität noch nie begegnet.
  • Das Titelbild ist dem Satireblatt “Berliner Wespen” entnommen, die damit ihren Unmut über die Drohungen gegen die Schweiz Ausdruck verliehen. Es wurde am 20. April 1881 veröffentlicht und zeigt das Rotkäppchen “Schweiz” mit dem Korb “Asylrecht” in der Hand, das den Wölfen mit “Bangemachen gilt nicht!” trotzt. Auch wenn die Wölfe nicht näher bezeichnet sind, stehen sie wohl für Deutschland, eventuell auch für Rußland, das nach dem Attentat auf Zar Alexander II. am 13. März 1881 europaweit die Auslieferung von allen fordert, die es für Terroristen hält. Bismarck biedert sich mit seiner Bedrängung der Schweiz nicht zuletzt auch beim neuen Zaren Alexander III. an. Mehr zum Hintergrund findet sich in meinem Artikel “Wird die Schweiz der 40. Staat der USA?” auf dem Blog “Freisinnige Zeitung”.