Der hungernde Marvin

Dieses Gedankenspiel hilft dabei, ethische Fragen im Zusammenhang mit Einwanderung zu klären. Es werden dabei Passagen aus dem Artikel Is There a Right To Immigrate? des amerikanischen Philosophen Michael Huemer verwendet. Möglicherweise kommt die Inspiration für den Namen der Hauptfigur Marvin aus einer Episode von South Park mit einem “starvin’ Marvin”. Die Arbeit von Michael Huemer wird in mehreren Blogposts und Artikeln erwähnt:

Huemer bezieht sich auf Einwanderung in die USA, aber seine Argumentation ist unabhängig vom Land.

Beschränkungen der Einwanderung und die Unterscheidung von Töten und Sterbenlassen

Siehe auch: Töten und Sterbenlassen (Unterschied zwischen Handlung und Unterlassung).

Huemer schreibt (Seite 4-5):

Angenommen, Marvin droht ohne mein Verschulden zu verhungern. Er bittet mich um Essen. Wenn ich mich weigere, ihm Essen zu geben, unterlasse ich es, Marvin einen Vorteil zu gewähren, und lasse es zu, daß Marvin hungert. Falls Marvin dann verhungert, würden diejenigen, die eine Unterscheidung zwischen Handeln und Geschehenlassen akzeptieren, sagen, daß ich Marvin nicht getötet habe, sondern nur zugelassen habe, daß er stirbt. Und manche glauben, daß dies viel weniger falsch ist als eine Tötung, möglichweise sogar überhaupt nicht falsch. Man betrachte nun einen anderen Fall. Angenommen, Marvin droht wieder zu verhungern, hat aber vor, zum lokalen Markt zu gehen, um etwas zu essen zu kaufen. Ohne äußere Behinderung würde sein Vorhaben gelingen — der Markt ist offen, und es gibt Leute, die Essen gegen etwas eintauschen würden, das Marvin hat. Nun sei angenommen, daß ich Marvin im vollen Bewußtsein der Lage aktiv und mit Zwang daran hindere, den Markt zu erreichen. Als Ergebnis verhungert er. In dieser Situation würde sicherlich über mich gesagt werden, daß ich Marvin getötet habe oder wenigstens etwas getan habe, das moralisch mit einer Tötung vergleichbar ist.

Die Handlungen des amerikanischen Staates auf Bundesebene entsprechen eher dem Fall, bei dem ich Marvin daran hindere, den Markt zu erreichen, als dem Fall, in dem ich es bloß ablehne, ihn mit Essen zu versorgen. Die staatliche Einwanderungspolitik ist nicht allein eine passive — beispielsweise unterläßt es der Staat nicht bloß, Menschen bei der Einreise in die USA zu unterstützen. Vielmehr engagiert der Staat bewaffnete Wachposten, um Menschen von einer Einreise abzuhalten und Menschen zwangsweise des Landes zu verweisen, die bereits da sind. Die amerikanische Bundesregierung gibt fast dreizehn Milliarden Dollar jährlich aus, nichtautorisierte Einwanderer aktiv auszuschließen oder außer Landes zu schaffen. Die Vereinigten Staaten sind wie der Markt, auf dem die potentiellen Einwanderer ihre Bedürfnisse befriedigen können. Es gibt Amerikaner, die bereit sind, die Einwanderer anzustellen, ihnen Wohnraum zu vermieten und allgemein an allen möglichen Arten von erforderlichem Interaktionen mit den Einwanderern zu beteiligen. Mein Vorwurf ist nicht, daß der amerikanische Staat versäumt, Bewohnern der Dritten Welt zu geben, was sie brauchen. Es geht darum, daß der Staat aktiv und mit Zwang hindert viele Bewohner der Dritten Welt daran, eine Vorgehensweise zu verfolgen, die sie andernfalls verfolgen würden und die tatsächlich erfolgreich sie in die Lage versetzen würde, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Das ist viel näher daran, einen Schaden zuzufügen, als nur zuzulassen, daß einer geschieht.

Antworten auf weitere Einwände: das Argument zu Wohlfahrtsstaat und Steuerlast

Siehe auch: Wohlfahrtsstaat und Steuerlast.

Michael Huemer schreibt (Seite 12-15):

Angenommen sei wieder der Fall des hungernden Marvin. In der letzten Version der Geschichte hinderte ich Marvin mit Zwang daran, den lokalen Markt zu erreichen, weil es notwendigerweise nur auf diese Weise zu verhindern war, daß meine Tochter einen höheren als den normalen Preis für Brot bezahlen mußte. Diese Handlung erscheint nicht gerechtfertigt. Könnte ich mein Verhalten erfolgreich damit verteidigen, wenn ich darauf verweisen würde, daß ich als Vater besondere Verpflichtungen meiner Tochter gegenüber habe und daß diese implizieren, daß ich ein größeres Gewicht auf die Interessen meiner Tochter legen muß als auf die von Nichtmitgliedern meiner Familie? Sicher, die Voraussetzung ist wahr — Wenn überhaupt haben Eltern stärkere und klarere Pflichten, die Interessen ihres Nachwuchses zu schützen, als es der Staat für die Interessen der Bürger hat. Doch setzt das nicht die Rechte von Nichtmitgliedern meiner Familie außer Kraft, nicht von schädlichem Zwang betroffen zu sein. Meine besonderen Verpflichtungen gegenüber meinem Nachwuchs implizieren, daß ich im Allgemeinen, wenn ich wählen muß, meinem Kind Essen zu geben oder einem Nichtmitglied meiner Familie, das Essen meinem Kind geben sollte. Aber sie implizieren nicht, daß ich Zwang dazu einsetzen darf, um Nichtmitglieder meiner Familie daran zu hindern, Essen zu bekommen, um damit für kleine wirtschaftliche Vorteile für meine Kinder zu sorgen.

Als nächstes sei der Vorwurf betrachtet, daß Einwanderer eine Belastung des Staatshaushalts schaffen durch ihren Bezug von Sozialleistungen. Insgesamt bezahlen Einwanderer leicht weniger an Steuern als die Kosten der Sozialleistungen, die sie beziehen. Das liegt vor allem daran, daß Einwanderer tendenziell weniger als der Durchschnitt verdienen und somit relativ geringe Steuern zahlen. Einige Wirtschaftswissenschaftler glauben trotzdem, daß höhere Einwanderung auf lange Sicht (über einen Zeitraum von Jahrzehnten) einen positiven fiskalischen Nettoeffekt haben würden.

Angenommen, Einwanderer führen zu einer Nettobelastung des Staatshaushalts. Würde diese Tatsache rechtfertigen, daß eine große Anzahl von potentiellen Einwanderern zwangsweise von der Einreise in das Land abgehalten werden? Um dies zu beantworten, müssen wir uns zunächst fragen, ob der Staat gegenwärtig die Verpflichtung hat, Sozialleistungen für potentielle Einwanderer zu erbringen, selbst bei Nettokosten für den Staat. Nach einigen Theorien für Verteilungsgerechtigkeit könnte man argumentieren, daß der Staat eine solche Verpflichtung hat, auch wenn diese potentiellen Einwanderer zurzeit keine Bürger sind. In dem Fall darf der Staat offensichtlich potentielle Einwanderer nicht ausschließen, um sich vor seiner Pflicht zu drücken.

Andererseits angenommen, daß der Staat keine Verpflichtung hat, Sozialleistungen für Einwanderer bereitzustellen, wenigstens nicht, ohne von ihnen hinreichende Einnahmen einzusammeln, um die Ausgaben abzudecken. Wenn das stimmt, wäre der Staat vielleicht berechtigt, Sozialleistungen an Einwanderer zu verweigern, Steuern auf sie zu erheben oder besondere Gebühren von den Einwanderern für Sozialleistungen zu verlangen. Aber es bleibt unplausibel, daß der Staat berechtigt wäre, potentielle Einwanderer von seinem Territorium vollständig auszuschließen. Es ist typischerweise keine befriedigende Verteidigung einer schädlichen Handlung mit Zwang zu sagen, wegen einer Politik, die man freiwillig angenommen hat, daß man, wenn man sein Opfer nicht auf diese Weise zwingt, ansonsten einen Vorteil der Person verschaffen würde, den man nicht verschaffen möchte.

Es sei zum Beispiel angenommen, daß ich eine wohltätige Organisation betreibe. Ich habe eine Politik, kostenloses Essen allen armen Leuten anzubieten, die auf den lokalen Markt kommen.Unglücklicherweise läuft meiner Organisation das Geld langsam aus, weshalb ich nach Wegen suche, die Kosten zu senken. Als ich mitbekomme, daß Marvin auf dem Weg zum Markt ist, um etwas zu essen zu kaufen, entschließe ich mich, Geld dadurch zu sparen, daß ich ihn daran hindere, den Markt zu erreichen. Marvin ginge es besser, wenn er auf den Markt gelassen würde, sogar ohne das kostenlose Essen, das ich gewohnheitsmäßig ausgebe; denn er könnte immer noch etwas billiges Essen mit seinem begrenzten Mitteln kaufen. Doch ich habe schon eine Politik gemacht, daß ich kostenloses Essen allen armen Leuten auf dem Markt anbiete. Also würde ich tatsächlich auch Marvin kostenloses Essen anbieten, wenn er es dorthin schaffen würde. Ist es zulässig für mich, Marvin mit Zwang einen schweren Schaden aufzulegen, um zu vermeiden, daß ich entweder meiner Politik breche oder Marvin kostenloses Essen gebe?

Mit Sicherheit nicht. Vielleicht wäre ich berechtigt, meine Politik zu ändern und mich zu weigern, Marvin kostenloses Essen zu geben, wenn er auf dem Markt ankommt — das wäre zulässig vorausgesetzt, daß ich keine humanitäre Verpflichtung habe, Marvin beizustehen. Ich habe sicherlich kein Recht, Marvin aktiv daran zu hindern, sein eigenes Essen zu bekommen. Wenn Marvin zum Markt gekommen wäre, um Essen zu stehlen, dann wäre ich vielleicht wiederum berechtigt, in auszuschließen. Selbst diese Behauptung wäre umstritten; wenn Marvins Notlage hinreichend dringend wäre, würden manche sagen, daß ich ihn mein Essen nehmen lassen muß. Aber was auch immer man über diese Frage denkt, kann sicherlich nicht rechtfertigen, daß ich Marvin an der Gelegenheit hindere, Essen von anderen zu kaufen, allein deswegen, weil ich ihm, wenn ich ihm das gestatte, freiwillig etwas zu essen geben werde.

Zusammenprall der Kulturen

Siehe auch: Zusammenprall der Kulturen.

Man stelle sich vor, daß ich Marvin mit Zwang daran gehindert habe, den lokalen Markt zu erreichen, woe r Essen gekauft hätte, das er brauchte, um am Leben zu bleiben. Nachdem meine bisherigen Rechtfertigungen für mein Handeln hinfällig geworden sind, erwähne ich, daß ich noch einen anderen Grund hatte.

Marvin praktiziert sehr andere Traditionen als die meisten anderen Leute auf dem Markt. Beispielsweise trägt er ungewöhnliche Kleidung, gehört einer Minderheitsreligion an, spricht eine andere Sprache als die anderen (auch wenn er in der Lage ist, gut genug zurechtzukommen, um Essen zu kaufen) und bewundert sehr andere Arten von Kunst. Ich und viele der Händler, die den Markt nutzen, sind besorgt, daß Marvin, wenn er auf den Markt geht und mit den dort versammelten Leuten zu tun hat, das Denken und Verhalten der anderen auf dem Markt beeinflussen könnte. Er könnte vielleicht andere zu seiner Religion bekehren, beispielsweise mehr Leute dazu bringen, eher seine als meine Sprache zu sprechen. Weil wir nicht wollen, daß diese Dinge passieren, haben wir entschieden, mit Zwang Marvin daran zu hindern, den Markt zu erreichen.

Diese Handlung erscheint falsch. Der Wunsch der Händler, von Leuten umgeben zu sein, die ähnlich denken und sich benehmen wie sie selbst negiert nicht Marvins Recht, frei von schädlichem Zwang zu sein. Es erscheint gleichermaßen unplausibel, darauf zu bestehen, daß Marvins Rechte vom Wunsch der Händler überwogen werden, kulturellen Wandel zu vermeiden.

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