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Milton Friedman und Einwanderung – schon wieder

Unter diesem Titel entwickelt Don Boudreaux beim Cafe Hayek ein interessantes Argument. Ausgangspunkt ist der viel zitierte Ausspruch von Milton Friedman, daß man offene Grenzen oder einen Wohlfahrtsstaat haben kann, aber nicht beides. Friedmans Grundannahme ist dabei wohl, daß ein Staat, der ohne Beschränkungen Wohltaten austeilt, so viele Einwanderer anlocken würde, daß er ab einem gewissen Punkt entweder weitere Einwanderer abweisen muß oder an den Anforderungen zugrundegeht. Manche leiten daraus her, daß es offene Grenzen erst nach Abschaffung des Wohlfahrtsstaates geben kann, und man bis dahin die Grenzen dichthalten sollte. Wie ich von jemandem erfahren habe, der mit David Friedman, dem Sohn von Milton Friedman, korrespondiert hat, war dies vielleicht nicht die Auffassung von Milton Friedman, auch wenn dessen Meinung unklar bleibt.

Was ist zu der Behauptung zu sagen?

Wenn ich das Argument richtig wiedergegeben habe, dann hat dieses per se gar nichts mit Einwanderung zu tun. Versucht ein Staat so hohe Leistungen zu verteilen, daß diese weit höher als Einkommen aus Arbeit ausfallen, dann gilt der obige Einwand ja auch für Inländer. Um es auf die Spitze zu treiben: Wenn der deutsche Staat jedem ein Einkommen von einer Million Euro im Jahr garantieren würde, dann würde wohl die Mehrheit der Bevölkerung ihre Arbeit aufgeben und eine solche Leistung beziehen wollen. Womit dann aber nicht mehr diejenigen da wären, die das finanzieren sollten, und das Kartenhaus zusammenbrechen würde. Und umgekehrt: würde der deutsche Staat ein Einkommen von 100 Euro im Jahr garantieren, gäbe es wohl keine Finanzierungsprobleme, und ein solcher Wohlfahrtsstaat könnte ewig bestehen, ob mit oder ohne offene Grenzen. Selbst für die Ärmsten in der Welt würde sich nämlich eine Wanderung deshalb kaum lohnen. Mit anderen Worten: es handelt sich um keine prinzipielle Frage, sondern um eine Frage, wie hoch die Leistungen eines Wohlfahrtsstaates ausfallen und wie attraktiv sie im Vergleich zu Einkommen aus Arbeit sind.

Tatsächliche Wohlfahrtsstaaten halten hier, unabhängig von großen Deklarationen über Menschenrechte, auch einfach die Waage und gestalten ihre Leistungen so aus, daß eben nicht so viele diese beziehen wollen, daß sich das nicht finanzieren läßt. Entgegen anderslautenden Vermutungen ist es für die meisten keine attraktive Alternative, ihre Arbeit aufzugeben und sich stattdessen über Hartz IV finanzieren zu lassen. Bei offenen Grenzen würden in einem reichen Land nun allerdings vielleicht viele hinzutreten, die sehr wenig mit ihrer Arbeit verdienen können. Ihnen würden staatliche Leistungen möglicherweise als attraktive Alternative vorkommen.

Für einen Wohlfahrtsstaat würden sich dann aber folgende Möglichkeiten ergeben: (1) mehr Mittel heranzuschaffen, um die bisherigen Leistungen aufrechtzuerhalten, (2) die Leistungen allgemein abzusenken, (3) die Leistungen differentiell für Einwanderer abzusenken oder (4) eine Kombination aus diesen drei Möglichkeiten, z. B. mehr Mittel, geringere Leistungen im Allgemeinen und differentiell niedrigere Leistungen für Einwanderer. Geschlossene Grenzen sind hierbei eine extreme Form von Variante (3), wobei man die Menschen, die Leistungen beziehen könnten, nicht nur von diesen, sondern gleich vom Zugang zum Land ausschließt. In jedem dieser Fälle könnte der Wohlfahrtsstaat weiter bestehenbleiben, im Widerspruch zu Milton Friedmans pauschaler Aussage. Am ehesten läßt sich diese wohl retten, wenn man sie als allgemeinen Hinweis versteht, daß sich die Ausgestaltung eines Wohlfahrtsstaates bei offenen Grenzen ändern könnte. Unter den aktuellen Umständen ist dies vielleicht gar nicht mal der Fall, weil Wohlfahrtsstaaten zumeist so ausgerichtet sind, daß sie von (ärmeren) Jungen zu (reicheren) Alten umverteilen. Insofern Einwanderer eher jünger sind, zahlen sie hier netto ein, sodaß praktisch alle OECD-Staaten an ihnen Überschüsse einnehmen.

Nun aber zum Argument von Don Boudreaux. Was wäre nun das Problem mit einem Wohlfahrtsstaat bei offenen Grenzen? Je größer der Anteil an Leistungbeziehern wäre (nicht die Anzahl, solange ihnen entsprechend eingewanderte Einzahler gegenüberstehen!), desto höher müßten die Mittel sein, die aufgebracht werden müssen über Steuern und Abgaben (oder zeitweise über Staatsschulden) oder desto niedriger müßten die Leistungen sein oder eine Kombination aus beidem. Für Kritiker eines Wohlfahrtsstaates, wenigstens eines weitgehenden, wie Milton Friedman wohl einer war, sollten geringere Leistungen eher nicht das Problem sein, sondern höhere Steuern, Abgaben und Staatsschulden. Sein Argument läuft damit darauf hinaus, daß man die Grenzen geschlossen halten sollte (oder doch weitgehend so), damit der Staat dies nicht zum Vorwand nimmt, die Steuern anzuheben.

Doch Milton Friedman hat eine solche Position bei anderen Fragen überhaupt nicht vertreten. So trat er etwa für die Legalisierung von Drogen ein. Aber eine solche Legalisierung könnte ja auch zu mehr Leistungsbeziehern führen, die Druck auf das Niveau der Leistungen oder ihre Finanzierung ausüben. Und das könnte ein Staat als Vorwand für Steuererhöhungen nehmen, womit genauso folgen sollte, daß eine Drogenfreigabe erst nach Abschaffung des Wohlfahrtsstaates denkbar ist. Eine solche Qualifikation seiner Position hat Milton Friedman jedoch nie ins Spiel gebracht. Und damit nicht genug. Milton Friedman hätte sich für jeden Protektionismus in die Bresche werfen müssen, der Arbeitsplätze in einer Branche vor ausländischer Konkurrenz schützt. Denn bei Freihandel würden die betreffenden Beschäftigten ihre Arbeit verlieren und auf den Wohlfahrtsstaat zurückgreifen, womit sich ein Vorwand für Steuererhöhungen ergeben könnte. Auch hier: Freihandel, erst wenn der Wohlfahrtsstaat weg ist! Praktisch jede Art von Bevormundung, etwa von Studenten die Fächer wie “Dance Criticism” studieren möchten ohne Aussichten auf eine Beschäftigung, wäre gerechtfertigt, solange es einen Wohlfahrtsstaat gibt. Usw. Etc.

Don Boudreaux faßt den Fehler in der Argumentation gegen offene Grenzen bei einem Wohlfahrtsstaat schließlich in den Worten zusammen:

“Ich habe nie die Logik verstanden, die zu dem Schluß führt, daß der illegitime Wohlfahrtsstaat die ansonsten illegitime, vom Staat ausgeübte Macht, in die Bewegungsfreiheit und Assoziationsfreiheit (also: offene Einwanderung) einzugreifen, in eine legitime Macht verwandelt.”

Eine Mauer um den Wohlfahrtsstaat bauen anstatt um das Land?

Bei der Frage, wie sich offene Grenzen und ein Wohlfahrtsstaat zueinander verhalten, gibt es zwei Denkrichtungen. Die eine geht davon aus, daß der Wohlfahrtsstaat bei offenen Grenzen stark wachsen würde; die andere unterstellt umgekehrt, daß der Wohlfahrtsstaat bei offenen Grenzen schrumpfen, ja sogar ganz verschwinden könnte. Je nachdem wird dies positiv oder negativ gewertet. Beide Seiten sind sich aber darin einig, daß große Veränderungen zu erwarten sind. Nur über die Richtung hat man eben verschiedene Ansichten.

Es soll hier nicht darum gehen, dieses große Thema anzugehen, was aber auf jeden Fall vorgemerkt ist. Ich möchte nur meine Einschätzung kurz festhalten: Ich denke, daß sich beide Seiten über die Größenordnungen täuschen. In welche Richtung es ginge, ist zudem apriori vollkommen unklar. Übersehen wird hier nämlich, daß es gegenläufige Effekte gibt und man von daher das Gesamtergebnis nicht durch ein paar Behauptungen erschließen kann.

Einerseits könnten Einwanderer grundsätzlich Leistungen des Wohlfahrtsstaates überdurchschnittlich stark in Anspruch nehmen. Dies könnte zu finanziellen Belastungen für die Staaten führen, die die betreffenden Programme in Frage stellen oder höhere Steuern nach sich ziehen würden. Auch ist denkbar, daß Einwanderer von Parteien eingebunden werden, die einen Ausbau des Wohlfahrtsstaates wünschen.

Andererseits ist die Bevölkerung in weniger homogenen Ländern in geringerem Maße dazu geneigt, den Wohlfahrtsstaat auszubauen. Für die, die man quasi als erweiterte Familie ansieht, würde man etwas geben, für Fremde nicht. Wie wenig die Solidarität etwa in Europa reichte, ließ sich beispielsweise an der Entrüstung über Zahlungen an Griechenland ersehen, die ja eigentlich einem „Länderausgleich“ innerhalb Deutschlands entsprechen würden. Und selbst unter Deutschen gibt es Murren, wenn Ostdeutsche, Bremer oder Berliner netto etwas herausbekommen. Einwanderer würden hier indirekt also für eine Beschränkung des Wohlfahrtsstaates sorgen.

Welcher Effekt nun überwiegt oder ob es noch weitere gibt, das ist längst nicht so selbstevident, wie beide Seiten meinen. Ich will das hier auch nicht entscheiden. Vielmehr möchte ich beiden Seiten jeweils einen Hinweis geben, wie sie ihre Meinung überprüfen können.

Für diejenigen die eine große Belastung durch eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ befürchten, möchte ich auf meinen Artikel mit selbigem Titel verweisen und sie beruhigen. Wenigstens unter den gegenwärtigen Umständen und mit den bisherigen Einwanderern verdienen die Staaten einen Überschuß, wenn auch keinen sehr großen. Der Einfluß von Einwanderern auf die aktuelle Politik scheint mir zudem gering zu sein. Einwanderer sind wenig organisiert und oft als Nichtwähler für Politiker relativ uninteressant. Auch wenn sich hier vermehrt Lobbygruppen formieren, ist eher bemerkenswert, wie spät und wie wenig dies geschieht. Im Vergleich zu anderen Interessenten sind Einwanderer nicht auffällig stark repräsentiert. Testfrage: Gibt es wohl im Bundestag mehr Abgeordnete, die ein Herz für die kleine Minderheit von Bauern haben, oder mehr Abgeordnete, die sich vor allem als Vertreter der größeren Minderheit von Einwanderern sehen?

Einen anderen Hinweis möchte ich denjenigen geben, die den Schwund oder sogar Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaats befürchten und deshalb gegen offene Grenzen argumentieren, wie es etwa der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz in seiner Rede im Thalia-Theater getan hat. Ihnen würde ich gerne einen humaneren Vorschlag als geschlossene Grenzen unterbreiten. Er stammt von William Niskanen, dem vormaligen und mittlerweile verstorbenen Chairman des Cato Institutes, und lautet sinngemäß:

Wenn man sich Sorgen macht um den Wohlfahrtsstaat, wieso will man dann eine Mauer um das Land bauen? Würde es nicht reichen, eine um den Wohlfahrtsstaat zu bauen? Und wäre das nicht humaner als eine Mauer um das Land?

Gemeint ist damit, daß die Leistungen des Wohlfahrtsstaats auf die Bürger beschränkt werden, Nichtbürger hingegen keinen, einen geringeren oder verzögerten Zugang hätten. In Europa wären hier wohl Bürger anderer Staaten der Europäischen Union gleichzustellen. Doch für Einwanderer aus anderen Ländern müßte das ja nicht gelten. Wie ein solcher Vorschlag konkret aussehen könnte, haben Alex Nowrasteh und Sophie Cole in einem Report des Cato Institutes für die USA durchgespielt: Building a Wall around the Welfare State, Instead of the Country.

Für Amerika sieht es dabei nicht viel anders aus als auch für europäische Länder: Einwanderer sind insgesamt Nettozahler in die Sozialsysteme. Von daher ist der Vorschlag wenigstens unter den gegebenen Umständen eigentlich überflüssig. Die Bevölkerung sieht das aber anders, auch wieder ganz ähnlich in den USA wie in Europa. Und das schafft Vorbehalte gegen offene Grenzen. Die Autoren argumentieren in ihrem Bericht von daher, daß eine Beschränkung Vorteile haben könnte. Indem man klar demonstriert, daß Einwanderer nicht die Sozialsysteme belasten, sondern sogar die Bürger subventionieren, konterkariert man die Stimmung in der Bevölkerung und macht diese gewogener für offene Grenzen.

Offene Grenzen aber würden weitaus mehr an Wohlstand schaffen, als es irgendwelche Transferprogramme je könnten. Und der Wohlfahrtsstaat würde durch eine solche Mauer geschützt werden, ohne daß man eine Mauer um das Land bauen müßte. Das wäre auf jeden Fall eine humanere Lösung, als vielen Menschen durch geschlossene Grenzen die Möglichkeit zu nehmen, sich durch ihre Arbeit aus Armut zu befreien und ihr Leben zu verbessern.

Belasten bulgarische und rumänische Einwanderer die Staatshaushalte?

Mit dieser im Titel gestellten Frage beschäftigt sich der schwedische Wissenschaftler Joakim Ruist in einem Artikel, der auf dem Ökonomenblog VoxEU erschienen ist: The fiscal consequences of unrestricted immigration from Romania and Bulgaria.

In Deutschland hob die Diskussion über die vollständige Öffnung der Grenzen mit Bulgarien und Rumänien so richtig erst im letzten Jahr an, um sich zu Beginn des laufenden Jahres dann zu einer allgemeinen Debatte über “Armutszuwanderung” und deren Konsequenzen auszuweiten. Das ist eigentlich eher ein Artefakt einer kurzfristig orientierten Öffentlichkeit und Politik. Daß die Grenzen geöffnet würden, stand nämlich seit 2007 fest, als Bulgarien und Rumänien der Europäischen Union beitraten. In dem Fall stellt es die EU den einzelnen Staaten frei, für eine Übergangsphase von sieben Jahren die Grenzen noch mehr oder minder dicht zu halten. Die EU stellt das, wohlgemerkt, nur frei, verlangt es aber keineswegs. Und der deutsche Staat nahm diese Möglichkeit, ähnlich wie auch schon bei den vorherigen Beitrittsländern wie Polen, auch in der maximalen Dauer wahr.

Aber andere Länder taten dies nicht. So öffneten Schweden oder Finnland ihre Grenzen bereits mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien. Großbritannien und Irland beließen es bei nur geringen Beschränkungen. Das bedeutet, daß das, worüber deutsche Politiker und Öffentlichkeit zur Jahreswende plötzlich angstvoll aufschreckten, in diesen Ländern schon längst und seit langem Realität ist. Man könnte von daher meinen, daß gerade diejenigen, die große Probleme erwarten, nun auf die verhehrenden Auswirkungen für die überschnellen Länder hinweisen würden. Es gibt nur einen kleinen Haken: Dort gibt es nicht nur nichts zu sehen, die betreffenden Staaten haben sich sogar in ihren Haushalten etwas Gutes mit der Öffnung der Grenzen getan, wie Ruist anhand von eigenen Untersuchungen und denen anderer Wissenschaftler aufzeigt.

Dabei ist es nützlich, daß mit Schweden ein ausgeprägter Wohlfahrtsstaat und mit Großbritannien ein eher weniger stark ausgeprägter Wohlfahrtsstaat vorangingen, die somit die Bandbreite der europäischen Wohlfahrtsstaaten repräsentieren können. Die Ergebnisse sind allerdings weitgehend unabhängig davon, wie ausgeprägt der Wohlfahrtsstaat in den betreffenden Ländern ist: sowohl der britische als auch der schwedische Staat konnten einen Überschuß von Einnahmen gegenüber Ausgaben für die Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien verzeichnen.

Das mag den verwundern, der die Vorstellung von Einwanderern im Kopf hat, die hauptsächlich die Sozialleistungen mitnehmen wollen. Wenn man in Bulgarien oder Rumänien um Klassen weniger verdient, dann müßten doch eigentlich die relativ üppigen Leistungen des schwedischen Staates wie das Schlaraffenland wirken. Der Denkfehler hierbei ist, daß die Möglichkeiten, mit seiner Arbeit noch viel mehr zu verdienen, noch attraktiver sind. Zudem sind die Sozialsysteme in den verschiedenen Ländern auch so strukturiert, daß sie vor allem eine Umverteilung, nicht wie annonciert, von den Reichen zu den Armen, sondern von den Jungen zu den Alten (und zumeist relativ Reichen) bewerkstelligen. Da Einwanderer in der Regel eher jünger sind, zahlen sie erst einmal netto in die Systeme ein. Der Zusammenhang ist dabei recht allgemein, wie ich in meiner Besprechung einer Studie der OECD aufgezeigt habe, siehe: Einwanderung in die Sozialsysteme?

Eigentlich hätte man auch in Deutschland auf eine derart naheliegende Idee kommen können, sich einfach mal die Länder anzuschauen, die ihre Grenzen schon lange aufgemacht haben. Aber dann hätte man natürlich die Dramatik abschreiben müssen, die die Angst vor Einwanderern verhieß. Apriori ist es ja wirklich nicht klar, was unter offenen Grenzen mit einem Wohlfahrtsstaat passiert. Daß allein die Leistungen schon die Einwanderer anlocken, ist immerhin denkbar. Aber vom grünen Tisch kann man die Frage eben nicht entscheiden. Hierzu muß man sich auch einmal die Wirklichkeit anschauen.

Einwanderung in die Sozialsysteme?

Als Argument gegen offene oder wenigstens offenere Grenzen wird häufig eingewandt, daß dies zu einer “Einwanderung in die Sozialsysteme” führe. Der vormalige Innenminister Friedrich und die CSU griffen dieses Schlagwort etwa in der letzten Zeit auf. Und nicht allein bei Konservativen ist eine solche Sicht beliebt, auch unter Liberalen wird sie häufig geteilt. Niemand Geringeres als Milton Friedman formulierte es so:

Because it is one thing to have free immigration to jobs. It is another thing to have free immigration to welfare. And you cannot have both. If you have a welfare state, if you have a state in which every resident is promised a certain minimal level of income, or a minimum level of subsistence, regardless of whether he works or not, produces it or not. Then it really is an impossible thing.

Heraus kommt bei Liberalen dann oft eine Position folgender Art: “Im Prinzip bin ich natürlich für offene Grenzen. Aber unter den gegebenen Umständen würde das zu einer Einwanderung in die Sozialsysteme führen. Von daher bin ich dagegen.” Effektiv bedeutet das, daß das “Prinzip” keinerlei Bedeutung hat und nur zur Beruhigung des liberalen Gewissens dient.

Dabei wäre eine einfache Auflösung des Problems auch anders denkbar: Man könnte Einwanderern keinen Zugang zu den Sozialsystemen gewähren, auf Dauer oder wenigstens für eine Karenzzeit, in der sie durch Abgaben und Steuern in Vorleistung gehen. Natürlich würde das auf das Gegenargument stoßen, daß der deutsche Staat ein “Menschenrecht” hochzuhalten habe. Doch derselbe deutsche Staat kennt ein solches “Menschenrecht” gar nicht. Klassischerweise ist das immer ein “Deutschenrecht” gewesen. Über die Zeit sind gewisse Gruppen hier gleichgestellt worden, etwa Ausländer, die mit Genehmigung des deutschen Staates in Deutschland leben. Der weitaus größte Teil der Menschheit bleibt aber auch so schon ausgeschlossen. Soetwas als “Menschenrecht”, das heißt als ein Recht, das jemandem qua Menschsein zukommt, zu bezeichnen, ist gelinde gesagt irreführend.

Doch was ist überhaupt dran an der Behauptung mit der “Einwanderung in die Sozialsysteme”?

Man kann hier natürlich auf Einzelfälle verweisen, bei denen von bestimmten Einwanderern Leistungen abgegriffen werden, ob innerhalb des rechtlichen Rahmens oder außerhalb davon. Doch mit Einzelfällen ist wenig bewiesen, solange man es nicht schafft, eine allgemeine Aussage aus ihnen abzuleiten. Einzelfälle gibt es ja auch für Deutsche. Jeder, der nicht blind durch die Welt läuft, hat solche schon einmal mitbekommen, etwa “Arbeitslose”, die sich schwarz etwas dazuverdienen.

Eine andere Argumentation versucht, die Frage apriori dadurch zu entscheiden, daß man den Bezug von Sozialleistungen als rationales Verhalten von Einwanderern schildert. Jemand, der aus einem armen Land kommt, dem muß es doch traumhaft vorkommen, sich vom Staat versorgen zu lassen auf einem weit höheren Niveau als zuhause. Doch wenn das rational ist, dann auch, daß jemand zum Arbeiten hierher kommt, mit dem er noch mehr bekommen kann. Man kann die Sinnhaftigkeit der Sozialsysteme hinterfragen, doch immerhin sind sie so beschaffen, daß sich durch Arbeit mehr an Wohlstand erreichen läßt als etwa durch Hartz IV. Wenn hier auch das Gefälle je nachdem nicht richtig sein mag und falsche Anreize schafft, dann gilt dies gleichermaßen für Einwanderer wie für Deutsche. Und dann sollte man seine Kritik auf eine Reform solcher Verhältnisse konzentrieren.

Apriori läßt sich die Frage allerdings auch gar nicht entscheiden, sondern nur empirisch. Es kann sein, daß sehr viele Einwanderer Leistungen in Anspruch nehmen oder auch nur wenige. Daß es welche gibt, ist noch nicht das Problem, nur wenn es so viele wären, daß die anderen Einwanderer, die in die Systeme einzahlen, das nicht kompensieren und somit von anderer Seite zugeschossen werden müßte, und das in einem erheblichen Ausmaß.

Deshalb zurück zur oben gestellten Frage: Wie steht es denn mit der “Einwanderung in die Sozialsysteme” aus?

Wenn man die Debatte verfolgt, hat man fast den Eindruck, als wenn es sich hier um ein großes Problem handelt. Schaut man sich die Zahlen an, dann wird man eines anderen belehrt. Dankenswerterweise hat die OECD nämlich dazu vor kurzem eine Studie, den “International Migration Outlook 2013”, vorgelegt, die unter anderem die fiskalische Nettoposition (Beiträge minus Leistungen) für Einwanderer in den zu ihr gehörenden Ländern darstellt. Das Ergebnis bestätigt die Befürchtungen nicht, im Gegenteil.

Es ist nicht ganz einfach, eine solche fiskalische Nettoposition zu berechnen, weil die Abgrenzung nicht unbedingt nur auf eine Weise geschehen kann. Man könnte sich dazu auf die ausländischen Staatsbürger im Inland konzentrieren. Das schmälert allerdings die Vergleichbarkeit, weil die einzelnen Staaten unterschiedlich leicht und oft einbürgern. Stattdessen werden von der OECD als Referenz die Menschen genommen, die im Ausland geboren wurden (“foreign-born”).

Hiermit ergibt sich folgendes Bild: Die fiskalische Nettoposition ist in allen OECD-Ländern von der Größenordnung her gering. Gemessen in Prozent vom Bruttoinlandsprodukt reicht die Bandbreite von -1,13% bis +2,02%. In 19 Ländern ist sie positiv, in zweien neutral und nur in fünf negativ. Für die OECD liegt sie durchschnittlich bei +0,35%. Es wird also netto von den Einwanderern in die Sozialsysteme eingezahlt.

Für manchen vielleicht verblüffend ist die Lage für Länder mit hoher Einwanderung besonders günstig. Luxemburg steht hier bei +2,02%, die Schweiz bei +1,95%. Auf dem dritten und vierten Platz folgen zwei Länder, aus denen eher Gejammer über Einwanderung zu vernehmen ist: Italien und Griechenland mit jeweils +0,98%. Mit anderen Worten: hier subventionieren die Einwanderer die Inländer. Auf den ersten Blick sieht die Situation für Deutschland schlecht aus mit dem Schlußplatz von -1,13%. Allerdings resultiert dies nur aus den Leistungen, die Einwanderer aus dem Rentensystem beziehen.

Nimmt man diese aus, so stellt sich ein anderes Bild ein: die fiskalische Nettoposition verbessert sich für die OECD auf +0,57% im Mittel. Es gibt nur noch drei Länder mit einer negativen Position, die auch im schlechtesten Fall (USA mit -0,51%) geringer ausfällt als inklusive Rentensystem. Luxemburg und die Schweiz stellen sich noch besser mit +2,2% und +2%. Für Deutschland ergibt sich nun ein positiver Saldo von +0,21%. Das ist auch eher die relevante Zahl, wenn es um in der Regel junge Einwanderer geht, die auf lange Sicht keine Renten beziehen werden. Um es zu betonen: diese subventionieren die Inländer, nicht umgekehrt.

Wie läßt sich der Unterschied zwischen den Zahlen mit und ohne Rentensystem erklären?

Ein großer Teil der auswärts Geborenen wanderte von den späten 50er bis in die 70er Jahre ein. Danach wurde die Zuwanderung aus politischen Gründen gedrosselt. Von daher finden sich unter den Einwanderern viele ältere Jahrgänge. Im Schnitt waren von 2007 bis 2009 die Haushaltsvorstände zu 33,5% zwischen 64 und 75 Jahren, zu 12,3% über 75 Jahre alt, sodaß gut 40% im Rentenalter lagen (vgl. Seite 171 der Studie). Allerdings  haben diese Menschen auch über lange Zeit in die Systeme eingezahlt. Und die Kinder und Enkel mit ihren Beiträgen fallen aus der Betrachtung heraus, da sie wohl meist in Deutschland geboren sind. Betrachtet man nur die ausländischen Staatsangehörigen mit ihrer jüngeren Altersstruktur, so ist der Saldo für diese auch positiv (siehe Seite 176).

Aufgrund der Altersstruktur sind die Zahlen für die einzelnen Aufwendungen nicht einfach vergleichbar, aber doch interessant. Einwanderer beziehen 30% weniger an Arbeitslosenunterstützung als Inländer und 40% weniger für Familienunterstützung, dafür 20% mehr an Sozialhilfe und 40% mehr an Wohnzuschüssen und Rente (siehe Seite 173). Hier nur die eine Seite zu nennen, wie es oft geschieht, verzerrt das Bild und unterstützt den Eindruck, als wenn einseitig nur Leistungen bezogen würden.

Um es zusammenzufassen:

  • Einwanderer zahlen in der OECD und den meisten ihrer Länder netto mehr in die Sozialsysteme ein, als sie erhalten.
  • Selbst wo die fiskalische Nettoposition negativ ausfällt, ist sie eher gering.
  • Der negative Saldo für Deutschland rührt vom Rentensystem und der Altersstruktur der Einwanderer her.
  • Beachtet man, daß ihre Nachkommen zwar einzahlen, aber meist aus der Betrachtung herausfallen und die heutigen Rentner über lange Zeit eingezahlt haben, dann relativiert sich diese Aussage weiter.
  • Die fiskalische Nettoposition wäre günstiger, wenn es mehr Einwanderung gegeben hätte. Wenn Deutsche sich darüber beklagen, dann müßten sie sich an die eigene Nase fassen, weil sie eine solche Politik oft selbst gefordert haben.
  • Fazit: Es hat bis jetzt netto eine “Einwanderung in die Sozialsysteme” eher auf der Zahlerseite gegeben. Das ist aber etwas ganz anders, als was oft suggeriert wird.

Nun kann man natürlich einwenden, daß das nur für die Vergangenheit galt, aber ab nun etwas anderes drohe. Bei völlig offenen Grenzen könne es anders aussehen. Es würde andere Menschen kommen, für die die Zusammenhänge anders wären. Etc.

Das ist natürlich alles möglich. Aber: Es spricht ja solange nichts dagegen, die Grenzen weiter zu öffnen, wie die Verhältnisse sich nicht umkehren. Daß Einwanderer die Inländer subventionieren, darüber braucht man sich nicht beklagen.

Und selbst wenn sich der Saldo ab einem gewissen Punkt umkehren würde und das in einem erheblichen Ausmaß, dann wären auch andere Vorschläge verfügbar, die nicht pauschal Einwanderung unterbinden: eine stärkere Ausgestaltung der Sozialsysteme zugunsten von denen, die arbeiten, sowie eine Beschränkung des Zugangs zu den Sozialsystemen für Einwanderer, sei es temporär oder, wenn es nicht anders ginge, dauerhaft.

Doch erst einmal müßte man ja ein Problem haben, bevor man es lösen muß.

[Dies ist eine leicht gekürzte Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 15. Oktober 2013 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]