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Offene Grenzen und das Recht auf Asyl

Rothkaeppchen

Im folgenden soll es darum gehen, zwei Konzepte miteinander zu vergleichen, die zwar in denselben Zusammenhang gehören, aber doch nicht zusammenfallen. In der Debatte werden sie allerdings oft vermischt. Daß das nicht immer vorteilhaft ist, soll schließlich aufgezeigt werden.

„Offene Grenzen“ stehen für einen Zustand, bei dem die Ein- und Auswanderung aus einem Land im Zweifelsfall frei ist. Jeder darf dorthin reisen, sich niederlassen oder eine Arbeit aufnehmen; jeder darf das Land verlassen. Zulässig könnten dabei allerdings bestimmte Beschränkungen der Bewegungsfreiheit sein, die für In- und Ausländer gleichermaßen gelten, etwa um einen Verdächtigen festzusetzen oder einen Verurteilten einzusperren. Ob er dabei in die Obhut des betreffenden Staates kommt oder eines anderen, sollte erst einmal keinen Unterschied machen. Eine Abschiebung ist von daher unter engen Bedingungen auch bei offenen Grenzen denkbar.

Besteht etwa ein entsprechendes Abkommen und liegen gute Gründe vor, so kann etwa ein flüchtiger Verbrecher einem anderen Staat überstellt werden, genauso wie zwischen verschiedenen Gliederungen eines Staates, etwa den deutschen Bundesländern. Beschränkungen kann es dabei natürlich geben, weil der eine Staat die Gründe des anderen Staates nicht anerkennt, beispielsweise weil das „Verbrechen“ im Inland keines ist oder im anderen Land Folter oder eine wesentlich härtere Strafe drohen. Ob ein Staat in solchen Fällen niemals ausliefert, nur unter bestimmten Umständen oder sogar immer auf Anfrage eines anderen Staates, darüber folgt aus dem Konzept der „offenen Grenzen“ zunächst einmal nichts.

Hier setzt ein Recht auf Asyl an, das unter bestimmten Umständen jemandem Schutz gewährt, zumeist bei Verfolgung aus politischen und diesen ähnlichen Gründen. Jemand darf nun nicht mehr an einen anderen Staat, jedenfalls nicht den, vor dem ihm Schutz geboten wird, ausgeliefert werden. Zudem könnte dem Asylanten auch Schutz gewährt werden vor Übergriffen, etwa wenn Häscher hinter ihm hergeschickt würden. Vorläufer eines Asylrechtes lassen sich dabei bis in das Altertum zurückverfolgen. So boten verschiedene Tempel in Griechenland Sklaven Schutz vor dem Zugriff durch Sklavenhalter, die sie mißhandelten. Später gab es im Mittelalter die Einrichtung, daß sich Verfolgte — durchaus auch jene, die ein regelrechtes Verbrechen begangen hatten — in eine Kirche flüchten durften. Allerdings war der Schutz dann meist nur vorübergehend: der Beschützte mußte sich nach einer Frist entscheiden, ob er sich selbst ausliefern oder seine Sünden bekennen und das Land verlassen wollte.

Ein Asylrecht im heutigen Sinne wurde erst später, nämlich erstmals als Artikel 120 der französischen Verfassung von 1793 verbrieft. Viele Staaten übernahmen solche Regelungen über die Zeit. Artikel 16a des Grundgesetzes erklärt ein solches Recht für Deutschland. Und in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948 wurde ein Recht auf Asyl allseits anerkannt.

Das klassische Land, das Verfolgten jeder Couleur Asyl gewährte, war lange die Schweiz. So flüchteten unter dem Sozialistengesetz viele deutsche Sozialdemokraten dorthin. Das Hauptorgan der Partei — „Der Sozialdemokrat“ — wurde aus Zürich heraus veröffentlicht. Und die Schweiz widerstand für ein ganzes Jahrzehnt dem massiven Druck Bismarcks, der durch seine offiziöse Presse Drohungen lancierte, man wolle die Schweiz annektieren. Die Sozialdemokraten wurden dann 1888 immer noch nicht ausgeliefert, sondern konnten unbehelligt hauptsächlich nach Großbritannien weiterziehen, bis das Sozialistengesetz 1890 nicht mehr verlängert wurde.

Dankbar erkannte das August Bebel an:

Nachdem die erste Überraschung bei unseren Gegnern vorüber war, brach in der gegnerischen Presse eine Hetze gegen die Schweiz los, »Kreuzzeitung« und »Reichsbote« voran. Sie verlangten die Ausweisung der Verschwörer aus der Schweiz und rieten zu dem Versuch, einen Hochverratsprozeß zu inszenieren. Aber das Verlangen der »Kreuzzeitung« und ähnlicher Organe, die Schweiz solle das Asylrecht mißachten und politisch mißliebige Personen ausweisen, hatte nur zur Folge, daß der im September tagende Schweizer Juristentag sich sehr entschieden für das Asylrecht aussprach. Der Grundsatz der Nichtauslieferung politischer Verbrecher sei unbeschränkt aufrechtzuerhalten. Die Schweiz solle in der Asylgewährung weitherzige Grundsätze betätigen, aber Spione, Agents provocateurs und ähnliches Gesindel mit Grund wegweisen. Ausweisung dürfe niemals einem fremden Staat zu Gefallen verhängt werden.

Wie man aus dem Beispiel der Schweiz im 19. Jahrhundert ersieht, kann ein Asylrecht auch bei offenen Grenzen gelten, die es im Wesentlichen damals gab. Es geht dabei nicht so sehr darum, daß jemand in das Land gelangen und dort bleiben kann, sondern darum, daß er nicht an einen anderen Staat ausgeliefert werden darf. Entsprechend ist ein Recht auf Asyl grundsätzlich auch unter mehr oder minder geschlossenen Grenzen denkbar. Natürlich gibt es eine gewisse Spannung. Etwa müßte ein Asylbewerber gleich an der Grenze sein Recht geltend machen können, wenn er dies nicht schon aus dem Ausland vermag. Da dies für Deutschland heutzutage nur möglich ist, wenn er auf dem Luftwege einreist oder vielleicht auf dem Seewege, weil es fast keine Grenzposten an den Landgrenzen mehr gibt, müßte er je nachdem zunächst einmal illegal einreisen, um dann erst Asyl zu beantragen.

Unter offenen Grenzen wäre ein Recht auf Asyl ein Privileg für gewisse Einwanderer. Sie könnten nicht ausgeliefert werden und hätten auch einen Anspruch auf Schutz vor Übergriffen aus dem Ausland. Zudem könnten sie ein Anrecht auf besondere Leistungen haben, wie etwa auf eine medizinische und psychologische Versorgung sowie Unterstützung finanzieller oder sonstiger Art, die anderen Einwanderern nicht zustehen würden.

Wie bis hierhin auseinandergesetzt wurde, sind also offene Grenzen und ein Recht auf Asyl zwei zwar miteinander einhergehende, aber doch unterschiedliche Konzepte. Ein Recht auf Asyl könnte es grundsätzlich auch unter weitgehend geschlossenen Grenzen geben. Umgekehrt könnte man sich genauso vorstellen, daß es offene Grenzen ohne ein Recht auf Asyl gibt. In der Debatte verschwimmen allerdings die beiden Konzepte oft. Hierfür gibt es mehrere Gründe:

  • Asyl als typische Form der Einwanderung. Aktuell sind die Grenzen für Einwanderer von außerhalb Europas weitgehend geschlossen, auch wenn die offenen Grenzen innerhalb Europas vielleicht einen anderen Eindruck vermitteln könnten. Eine und vielleicht die wesentliche Ausnahme ist dabei die Einwanderung unter Anrufung des Asylrechts. Es gibt zwar noch andere Wege, wie etwa eine Einwanderung als Kontingentflüchtling oder als Aussiedler, aber Einwanderung von außerhalb Europas scheint mit Asyl im Wesentlichen zusammenzufallen. Gäbe es andere Möglichkeiten für Einwanderung, so würde der Weg über das Asylrecht wohl eher in den Hintergrund treten.
  • Was man sieht und was man nicht sieht. Das Schicksal von Asylbewerbern und Asylanten ist relativ sichtbar. Abschiebungen führen drastisch vor Augen, was Zwang in diesem Zusammenhang bedeutet. Insofern hat man den Mißstand gewissermaßen „unter der Nase“. Hier greift eine Verfügbarkeitsheuristik, die das Naheliegende als das Typische ansetzt. Die Empörung über das, was man sieht, ist ganz zurecht groß. Was man allerdings nicht sieht, sind die Menschen, die es gar nicht einmal bis zu diesem Punkt schaffen oder die — wie gewollt abgeschreckt — es gar nicht erst versuchen.
  • Asyl als Weg des geringsten politischen Widerstands. Daß ein politisch oder ähnlich Verfolgter Schutz gewährt bekommt, ist relativ wenig umstritten, weil der Asylant sich gewissermaßen einen Anspruch auf Hilfe erworben hat. Selbst wenn ist das Asylrecht als Bestandteil des Grundgesetzes nur schwer aus der Welt zu schaffen. Und so ergibt sich eine Neigung, eine weitergehende Öffnung der Grenzen durch Umdeutung des Asylrechts herbeizuführen, etwa indem man auf den relativ vagen Begriff von “Flüchtlingen” rekurriert und auch andere Gründe konstruiert, die einen analogen Anspruch begründen sollen. Bei offenen Grenzen würde ein Recht zur Einwanderung hingegen jedem zustehen (bis auf gewisse wohlbegründete Ausnahmen), ohne daß ein besonderer Anspruch darauf begründet werden müßte.
  • Asylbewerber als dubiose Einwanderer. Auch für Gegner von Einwanderung kommt eine Gleichsetzung von offenen Grenzen und Asylrecht gelegen. Wenn unter geschlossenen Grenzen das Asylrecht fast der einzige Weg für Einwanderung von außerhalb Europas ist, darf man sich gar nicht wundern, daß auch viele kommen, die im strikten Sinne des Asylrechts keinen Anspruch haben. Man mag darüber diskutieren, ob hier Verfolgung je nachdem zu eng ausgelegt wird; aber selbst wenn ist es wohl richtig, daß die meisten Anträge auf Asyl unbegründet sind. Von daher ergibt sich ein Bild von Einwanderern als Betrüger, weil sie unwahre Behauptungen vorschützen.

Schlagworte wie „Asylmißbrauch“, „Scheinasylanten“ oder „Asylbetrüger“ sind zwar polemisch und auch herabsetzend gemeint, aber im engen legalen Sinne vielleicht nicht ganz falsch. Das Problem liegt nur woanders, weil Menschen durch die Gesetze ihr Recht im Sinne von Gerechtigkeit verwehrt wird. Man kann in einem solchen Falle durchaus argumentieren, daß es legitim ist, illegitime Gesetze zu umgehen, wie es etwa Ilya Somin unlängst getan hat. Doch der erste Eindruck ist natürlich, daß hier mit den Gesetzen auch das Recht mißachtet wird. Und dann ist ein solches Argument zur Legitimität von Illegalität in einem rechtspositivistisch geprägten Land wie Deutschland nicht unbedingt eingängig. In eine ungünstige Lage geraten dabei auch diejenigen, die das Asylrecht aufdehnen wollen. Entweder verstricken sie sich in unhaltbare Definitionen des Begriffs der „Verfolgung“ oder sie lassen allzu sehr durchblicken, daß das Asylrecht nur ein Mittel zum Zweck sein soll. Diese inhärente Unehrlichkeit wird von ihren Gegner dann genüßlich auseinandergenommen.

Aus der Sicht einer Position für offene Grenzen ist es ja nicht verkehrt, daß vielleicht auch mehr Menschen im Zuge des Asylrechts einwandern können, als das Recht an und für sich deckt. Aber man muß schon fragen, ob es wirklich zielführend ist, in dieser Richtung vorwärtszudrängen. Der nicht ganz falsche Eindruck, daß viele der eingereichten Asylanträge grundlos waren, führte in den 1990er Jahren zu einem Rückstoß gegen das Asylrecht insgesamt. Im Deutschen nennt sich eine solche Beschränkung dann eine „Verschärfung“, auch wenn eine Verschärfung eines Rechtes dem Wortsinne nach genau das Gegenteil sein sollte. Das wirkliche Problem nicht anzugehen und stattdessen das Asylrecht zu einem Recht auf begrenzte Einwanderung umzufunktionieren, wirkte hier letztlich eher kontraproduktiv.

Was folgt nun, wenigstens nach meiner Ansicht, für den Vertreter offener Grenzen?

Zum einen sollte man nicht an der Verwirrung der Begriffe mitarbeiten, nur weil man sich auf kurze Sicht davon eine gewisse Öffnung der Grenzen verspricht. Es ist sicherlich wünschenswert, daß das Asylrecht erhalten bleibt oder sogar wieder in den alten Zustand vor dem „Asylkompromiß“ von 1993 zurückzuversetzt wird. Die Auslegung sollte möglichst weit sein, die Bewerber nicht weggepfercht und ihnen nicht auf unwürdige Weise das Recht abgesprochen werden, mit ihrer Arbeit selbst für sich zu sorgen. Auch abgelehnte Asylbewerber sollten bleiben dürfen und Abschiebungen unterbleiben. Hier muß man sich gar nicht gegen die oft erhobenen Forderungen stellen, im Gegenteil.

Aber man sollte nicht versuchen, all diese Dinge durch eine Überbürdung des Konzeptes Asyl zu bewerkstelligen. Stattdessen muß einfach die grundsätzlich andere Frage aufs Tapet kommen, wie geschlossen oder offen die Grenzen allgemein sein sollten. Selbst mit allem Aufdehnen des Asylrechts kommt man hier nämlich nicht wirklich weiter. Und schlimmer noch: man bringt sich noch je nachdem in eine argumentativ sehr ungünstige Lage, wenn man nicht offen das ausspricht, was man eigentlich vertritt.

In diesem Sinne: Nicht offene Grenzen durch das Asylrecht, sondern offene Grenzen und das Recht auf Asyl.

Anmerkungen

  • Der knappe Ausdruck „Asylant“ ist aus dem Sprachgebrauch zurückgezogen worden, weil Begriffe auf „-ant“ angeblich automatisch negativ besetzt seien. Ich verwende ihn ohne jede beabsichtigte Wertung für diejenigen, die Asyl gewährt bekommen haben, weil ich diese Behauptung einfach nicht nachvollziehen kann. Beim ebenso neutralen Begriff „Praktikant“ ist mir eine solche Sensibilität noch nie begegnet.
  • Das Titelbild ist dem Satireblatt “Berliner Wespen” entnommen, die damit ihren Unmut über die Drohungen gegen die Schweiz Ausdruck verliehen. Es wurde am 20. April 1881 veröffentlicht und zeigt das Rotkäppchen “Schweiz” mit dem Korb “Asylrecht” in der Hand, das den Wölfen mit “Bangemachen gilt nicht!” trotzt. Auch wenn die Wölfe nicht näher bezeichnet sind, stehen sie wohl für Deutschland, eventuell auch für Rußland, das nach dem Attentat auf Zar Alexander II. am 13. März 1881 europaweit die Auslieferung von allen fordert, die es für Terroristen hält. Bismarck biedert sich mit seiner Bedrängung der Schweiz nicht zuletzt auch beim neuen Zaren Alexander III. an. Mehr zum Hintergrund findet sich in meinem Artikel “Wird die Schweiz der 40. Staat der USA?” auf dem Blog “Freisinnige Zeitung”.