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Die Lösung der Rastlbinderfrage

Im Vorlauf zu den Reichstagswahlen 1881 formiert sich die sogenannte “Berliner Bewegung”, die versucht, die Deutsche Fortschrittspartei aus ihrer Hochburg Berlin herauszudrängen. Das Hauptmittel dieser Bewegung ist der Antisemitismus. So wird etwa eine “Antisemitenpetition” aufgelegt, in der als ein Punkt gefordert wird, Juden die Einwanderung nach Deutschland zu verwehren. Bislang hatte Deutschland fast völlig offene Grenzen gehabt. Doch das beginnt sich zu ändern.

So entdeckt die offiziöse “Post” im September 1881 eine neue Gruppe, die man zu einer Bedrohung aufbauen und auf der man herumhacken kann: die “Rastlbinder”. Vor allem arme Slowaken wandern durch Europa und versuchen sich, unter anderem in Berlin, durchzuschlagen als fliegende Händler und Handwerker. Nun sollen sie nach Meinung der “Post” ausgewiesen werden.

Dagegen stellt sich das von Julius Stettenheim redigierte Satireblatt “Berliner Wespen”, das seit längerem bereits die Antisemiten verspottet und der Deutschen Fortschrittspartei nahesteht:

Berliner Wespen, 21. September 1881

Zum Schutz der Industrie.

“Ihr armen Slovakenkinder,
Ihr schmutzigen Rastlbinder,
Die Ihr für Logis und Kost
Hausirt hier” — so spricht die “Post!” —

“Ihr schädigt sämmtliche Menschen,
Indem Ihr in vaterländ’schen
Erzeugnissen macht, zugleich
Aussaugend das deutsche Reich.”

“Auch Ihr mit dem Leierkasten
Vermehrt uns’re schweren Lasten ——
Der ganze ausländische Trupp
Muß über die Grenze per Schub!”

Ade denn, Ihr Vagabunden,
Und bis Ihr zum Leben gefunden.
Einen baaren Reptilienfonds,
Packt Euch! Pascholl! Allons!

Berliner Wespen, 28. September 1881

Der Rastlbinder.

Nach Forschungen der “Post”.

Wie der Rastlbinder aussieht. Schon im Aeußern verräth der Slovake die ungeheuren Reichthümer, in deren Besitz er sich durch fortgesetzte ungehinderte Aussaugung unserer deutschen Mitbürger zu setzen verstanden hat. Er ist groß und wohlbeleibt, seine Nase vom Weingenuß geröthet, um seinen Mund spielt das Lächeln des gewohnheitsmäßigen Sybariten, seine Haltung ist dandyhaft. An der Hand, mit der er seine Mausefallen feilbietet, bemerkt man Ringe mit blitzenden Solitärs.

Wovon der Rastlbinder sich ernährt. Hat der Rastlbinder den ganzen Tag über schlechte Geschäfte gemacht, so begnügt er sich mit einem einfachen Souper von sechs bis acht Gängen, welches er in einem bürgerlichen Vorstadtrestaurant einnimmt, und trinkt Moselwein dazu.  Hat er aber eine Blechpfanne verkauft, oder einen Topf geflickt, so verwendet er den Erlös sofort, um sich damit ein lukullisches Mahl bei Hiller oder Dressel zu bereiten, woselbst man allabendlich die Slovaken in langen Reihen prassen und schlemmen sieht.

Wo der Rastlbinder wohnt. Die geradezu fabelhaften Summen, welche die Slovaken für ihre Draht- und Blechwaaren zu erpressen verstehen, setzen sie in den Stand, trotz ihres schwelgerischen Lebens soviel zu erübrigen, daß Jeder von ihnen nach kaum einjährigem Aufenthalt in der Reichshauptstadt Eigenthümer einer Villa im Thiergarten wird, so daß man mit Sicherheit das Prognostikon stellen kann, Berlin W. werde in fünfzig Jahren entweder verrastlbindert oder verdrehorgelt sein.

Wie die Rastlbinderfrage zu lösen ist. Die einzig radicale Lösung ist von den Forschern der “Post” bereits vor einigen Tagen in der polizeilichen Ausweisung der Slovaken gefunden und damit begründet worden, daß es nicht abzusehen sei, warum wir unser Vaterland durch fremde Rastlbinder aussaugen lassen sollen. Erscheint diese Maßregel zu hart, so müßten von Seiten der Behörde mindestens folgende Anordnungen getroffen werden: Es wird den Rastlbindern untersagt, sich ihre schlechten und billigen Waaren von den Käufern mit Gold aufwiegen zu lassen. Es wird ihnen verboten, vier- und mehrspännig auszufahren und Vorreiter zu halten. Slovakische Gelage und Festivitäten dürfen nur im Beisein eines überwachenden Polizei-Lieutenants abgehalten werden. In den Theatern wird den Rastlbindern der Zutritt zum Parket und ersten Rang verwehrt. Durch derartige Einschränkungen könnte man diesen Aussaugern den Aufenthalt in unserm Vaterlande so verleiden, daß sie ihm von selbst in kürzester Frist den Rücken kehren würden. Damit wäre die Rastlbinderfrage gelöst.

[Dies ist eine Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 26. September 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Einwanderungsland Preußen

Ab 1885 wurden auf Betreiben des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck im Zuge der “Polenausweisungen” 35.000 österreichisch-ungarische und russische Staatsangehörige, unter ihnen etwa 10.000 Juden, aus Preußen ausgewiesen. Die sogenannten “Überläufer” hatten oft seit Jahrzehnten dort gelebt, je nachdem Einheimische geheiratet (ihre preußischen Frauen verloren bei Heirat die Staatsangehörigkeit) und sich teilweise schon so weit als Preußen gefühlt, daß sie in der Armee gedient und an den Kriegen Preußens teilgenommen hatten, obwohl sie das gar nicht mußten.

Von Protesten nicht nur der Polen, sondern auch des katholischen Zentrums sowie aller Parteien der Linken, der Deutsch-Freisinnigen Partei, der Deutschen Volkspartei und der Sozialdemokraten, ja bisweilen sogar von konservativen Gutsbesitzern, deren Arbeiter abgeschoben wurden, ließ sich Bismarck nicht beirren. Angeblich ging es ihm darum, einer Polonisierung Preußens Einhalt zu gebieten. Aber selbst seine Anhänger bei den Konservativen und Nationalliberalen taten sich schwer, dafür die Argumente beizubringen. Als nächster Schritt wurde ein staatliches Aufkaufprogramm für polnische Güter auf den Weg gebracht und mit 100 Millionen Mark (etwa 1 Milliarde Euro nach Kaufkraft) dotiert.

Am 15. Januar und am 16. Januar 1886 kam es dann zu einer hitzigen Debatte im Reichstag. Die Mehrheit aus Deutsch-Freisinnigen, Deutscher Volkspartei, Zentrum, Sozialdemokraten und Polen verabschiedete schließlich eine Verurteilung der Maßnahmen, was von der offiziösen Presse als Sieg der “Reichsfeinde” gewertet wurde. Bismarck sorgte dafür, daß die Resolution des Reichstags im preußischen Landtag von seinen Unterstützern unschädlich gemacht wurde.

Seitens der Deutsch-Freisinnigen verurteilten die Ausweisungen Ludwig Bamberger, Ludwig Löwe, Heinrich Rickert und besonders eindringlich Julius Otto Ludwig Möller, der die Resolution der Partei, den Antrag Ausfeld und Genossen, begründete:

“Denn leider habe ich ja lieblose Aeußerungen hören müssen wie die: “Was gehen uns jene Fremden an? wer hat sie überhaupt geheißen, hierher zu kommen?” Ich will nun freilich die Frage ganz unerörtet und unentschieden lassen, ob diese Leute einen geschriebenen Satz des Völkerrechts zu ihrem Schutze anrufen könnten; das aber weiß ich doch, daß es ein Recht gibt älter und heiliger als alle geschriebenen Satzungen und Verträge, ein Recht, das schon heilig gehalten worden ist im Anfange aller Kultur: das Gastrecht! Und ich meine, daß es eines Volkes, welches, wie das deutsche, mit Recht stolz ist auf seine Kultur und seine Humanität, am allerwenigstens würdig sein kann, dieses alte heilige Recht zu verletzen oder auch nur ohne den entschiedensten Widerspruch verletzen zu lassen. Oder meinen Sie nicht, daß die gegenwärtigen Vorgänge einen Flecken auf den deutschen Namen werfen? (Sehr richtig! links.)”

Quelle: Digitale Sammlungen ULB Darmstadt

Die von den freisinnigen Politikern Eugen Richter, Ludolf Parisius und Hugo Hermes herausgegebene Wochenzeitung “Der Reichsfreund” — der Name bezog sich auf den Dauervorwurf, reichsfeindlich zu sein — begleitete die Ausweisungen mit einer Serie kritischer Berichte. So erinnerte man am 13. Februar 1886 daran, daß mit den Massenausweisungen die Tradition der Hohenzollern gebrochen wurde, die Preußen zu einem Einwanderungsland gemacht hatten:

Alte und neue Kolonisationen.

Die Hohenzollern kümmerten sich bei ihren Kolonisationen nicht um Religion und Nation ihrer Kolonisten — jeder ordentliche, fleißige Mann war ihnen recht, mochte er aus dem deutschen Reich oder aus Oesterreich, aus der Schweiz oder aus den Niederlanden, aus Italien oder Frankreich, aus Polen oder Rußland sein — mochte er Katholik oder Lutherisch oder Reformirt oder Griechischkatholisch, mochte er Hussit oder mährischer Bruder, Baptist oder Mennonit oder Phillipone oder Jude sein, mochte das Deutsche oder das Französische, das Italienische oder das Russische oder Polnische oder Tschechische seine Muttersprache sein. So hat der große Kurfürst in das verödete Brandenburg-Preußische Land Menschen hereingezogen — in die Kurmark z. B. durch Niederländer das “Holländische Bruch” bebauen lassen, in Berlin und anderen Städten durch französische Hugenotten eine nie gesehene Gewerbthätigkeit hervorgerufen. So hat Friedrich I. Waldenser, Pfälzer, Wallonen herangezogen, in Litthauische und Masurische Wüsten Schweizer verpflanzt. So hat Friedrich Wilhelm I., der freilich keine Polen und Juden leiden konnte, Ostfriesen und Niederländer und Polnische Mennoniten aufgenommen, auch 20,000 Salzburgern und den böhmischen Exulanten Besitzstand in Stadt und Land angewiesen. Friedrich der Große wünschte in Schlesien die Nationalitäten zu mischen, — wo alles polnisch ist, sollten nur Deutsche und in deutschen Gegenden polnische Leute angesetzt werden, aus dem Erzherzogtum Oesterreich und Steiermark, aus Böhmen, aus Ungarn und Siebenbürgen kamen sie gezogen, Italiener und Griechen — letztere aus Mazedonien, wurden nach Breslau berufen. Böhmen, die nur tschechisch sprachen, saßen in Rixdorf und Nowawes, Köpenick und Boxhagen bei Berlin, “Polnische Ueberläufer” erhielten sechsjährige Steuer- und Zollfreiheit. Dazwischen gab es eine Württembergische Kolonie und vom hessischen Amte Lichtenberg kamen an die 400 Familien nach der Neumark. In Westpreußen wurden alle Städte mit Auswanderern “meliert”. Die Schwabendörfer sind noch jetzt von den Polnischen auch äußerlich zu unterscheiden.

So früher. Jetzt werden erst an die 30,000 bis 40,000 Menschen, weil sie Oesterreichische oder Russische Staatsangehörigkeit haben, ohne Unterschied der Nation und der Religion ausgewiesen, und dann sollen durch viele Millionen Mark die Polnischen Güter ausgekauft werden, um an deutsche Ansiedler — nicht zur “Melirung” — sondern unter Ausschluß ehelicher Mischung — an Deutsche, die keine Polinnen heiraten, vergeben zu werden. Die deutschen Ansiedler dürfen nicht etwa “Deutsche” aus Oesterreich oder Rußland sein, — nein! nein! aus dem deutschen Reiche von Westen und Süden sollen sie auf polnischen Grund und Boden eingepflanzt werden.

Das stimmt alles herzlich wenig mit der alten Kolonisationspolitik der Hohenzollern — mit solchen Künsten wird der Reichskanzler keine Erfolge erzielen!

[Dies ist eine Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 27. April 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]