Wie Nathan Smith, der bei Open Borders: The Case bloggt, bei seiner Auswertung von Daten aus weltweit durchgeführten Umfragen, den World Values Surveys, feststellte, lautet die Antwort auf die im Titel gestellte Frage nicht notwendigerweise “ja”. So befürworteten 13% derjenigen, die Ausländern überhaupt nicht vertrauten, eine Politik des „let anyone come“. Und sogar unter denen, die Einwanderer lieber nicht als Nachbarn haben wollten, gab es welche, die sich einer solchen Position anschließen konnten.
Das ist vielleicht auf den ersten Blick etwas erstaunlich. Doch ist es deshalb ein Widerspruch? Da die Umfragen keinen Einblick in die Gründe gewähren, aus denen heraus die Befragten eine ablehnende Einstellung gegenüber Einwanderern mit einer Befürwortung von offenen Grenzen kombinierten, kann man hier nur mutmaßen.
Eine Möglichkeit wäre etwa, daß diese Befragten trotz einer gewissen Antipathie doch überwiegend Vorteile für sich sehen, wenn Menschen frei einwandern können. Jemand würde nicht ihre Nähe suchen und hätte eine eher verhaltene oder negative Meinung zu Einwanderern, aber würde trotzdem nicht für geschlossene Grenzen plädieren.
Eine andere Möglichkeit wäre, daß die Befragten mit solchen scheinbar widersprüchlichen Ansichten über ihren Schatten springen und offene Grenzen aus anderen Gründen befürworten, auch wenn sie sich davon nicht unbedingt eigene Vorteile versprechen, ja sogar gewisse Nachteile. Das könnte etwa von einem Rechtsempfinden herrühren, das sich über Befindlichkeiten hinwegsetzt. Weil man jemanden nicht mag, hat man noch lange kein Recht, gegen ihn auf unrechte Weise vorzugehen. Das ist eigentlich nur simpler Anstand.
Viele Abolitionisten im 19. Jahrhundert teilten etwa durchaus die negativen Meinungen ihrer sklavenhaltenden Mitbürger über Schwarze, waren aber gleichzeitig davon überzeugt, daß diese nicht das Unrecht der Sklaverei rechtfertigen konnten. Niemand muß schließlich erst durch seine Vortrefflichkeit beweisen, daß er kein Sklave sein darf. Analog kann man auch den Standpunkt vertreten, daß geschlossene Grenzen ein Unrecht sind, das man niemandem antun darf, selbst wenn er vielleicht kein perfekter Zeitgenosse ist. Um so gegen jemanden vorgehen zu dürfen, müßte man weit stärkere Gründe ins Feld führen, als daß man jemanden nicht leiden mag.
Während die Kombination aus Ablehnung von Einwanderern und Befürwortung von offenen Grenzen so ungewöhnlich ist, daß man nach einer Erklärung suchen muß, sind andere Kombinationen es keineswegs:
- Eine negative Haltung gegenüber Einwanderern und die Befürwortung von geschlossenen Grenzen.
- Eine positive Haltung gegenüber Einwanderern und trotzdem die Ablehnung von offenen Grenzen.
- Eine positive Haltung gegenüber Einwanderern und die Befürwortung von offenen Grenzen.
Daß es jede dieser Kombinationen gibt, zeigt schon einmal, daß die Haltung gegenüber Einwanderern nicht mit der Frage zusammenfällt, wie man sich zu offenen oder geschlossenen Grenzen stellt. Wer natürlich Einwanderer per se für extrem bedrohlich, ja gefährlich hält, der wird daraus schließen, daß man ihren Zuzug verhindern sollte. Aber aus einer positiven Haltung gegenüber Einwanderern folgt nicht, daß jemand sich für offene Grenzen ausspricht. Die zweite Kombination scheint sogar, wenn man die Bekenntnisse vieler Menschen für bare Münze nimmt, die in Deutschland am weitesten verbreitete Einstellung zu sein: „Ich habe nichts gegen Einwanderer, aber …“
Daß man Einwanderer für besonders hervorragende Menschen hält, könnte einen wohl eher dazu bestimmen, offene Grenzen zu befürworten. Vielfach wird von Anhängern und Gegnern deshalb davon ausgegangen, daß man bei einer Position für offene Grenzen eine geradezu idealisierte Vorstellung von Einwanderern haben müßte und daß man diese propagieren sollte, um Menschen für offene Grenzen zu gewinnen. Manch ein Befürworter von offenen oder wenigstens offeneren Grenzen tut hier auch gern den Gefallen und verstrickt sich in den Versuch, die allgemeine Vortrefflichkeit von Einwanderern zu beweisen und jegliche gegenläufigen Tatsachen zu bestreiten.
Ich denke, daß es zu einer solchen Verknüpfung von offenen Grenzen mit einer Idealisierung von Einwanderern keinen Grund gibt. Mitblogger Sebastian Nickel hat in einem Artikel hier zudem die Fallstricke eines solchen Junktims diskutiert. Indem man die Erwartungen sehr hoch ansetzt, schafft man mehr Möglichkeiten zu deren Enttäuschung. Einwanderer sind in der Regel vielleicht ganz normale Menschen, und unter ihnen finden sich von daher eben auch welche, die nicht bewundernswert sind.
Genauso wenig ist es notwendig, jede andere Kultur anzuhimmeln oder sich auch nur für sie zu interessieren, um für offene Grenzen einzutreten. An der deutschen oder europäischen Kultur habe ich auch manches auszusetzen. Genauso wie ich mir das Recht herausnehmen würde, darüber zu urteilen, würde ich mir das Recht ausbedingen, andere Kulturen und ihre Leistungen zu werten. Nicht alles muß mir gefallen, gerade weil ich davon ausgehe, daß eine Idealisierung keine Voraussetzung für offene Grenzen ist. Niemand muß seine Vortrefflichkeit beweisen, keine Kultur, aus der er kommt, keine Religion oder politischen Überzeugung, der er anhängt, muß bewundernswert sein, damit man ihm sein gutes Recht läßt.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Meine eigenen Erfahrungen mit Einwanderern waren weit überwiegend gut, jedenfalls auf dem Niveau wie mit den Einheimischen. Ich habe Leute kennengelernt, die hervorragend sind und wo ich mich jeden Tag freue, daß sie in meiner Nähe leben. Aber ich habe auch einzelne erlebt, die ich ganz schäbig fand und die sich mir gegenüber so verhalten haben. Und ich sehe keinen Grund, diesen Aspekt zu verschweigen oder herunterzuspielen, um für offene Grenzen zu sein. Ja, ich mag diese einzelnen Leute nicht. Daraus folgt eben nur nicht, daß ich ein Recht hätte, sie des Landes zu verweisen oder von vornherein herauszuhalten. Wie gesagt: das ist einfach nur simpler Anstand.
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Siehe auch:
- Vipul Naik: Against conflating open borders with other migration-related beliefs
- Bryan Caplan: Egoism, Libertarianism, Persuasion, and Worthy Arguments
- Nathan Smith: Mark Zuckerberg