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Lebensgeschichte eines Mecklenburgers

Am 20. Mai 1864, also vor fast genau 150 Jahren, erschien die folgende Karikatur im wöchentlichen Satireblatt “Hamburger Wespen”. Sie zeigt, wie Menschen sich bei offenen Grenzen aus Unterdrückung befreien können.

In jener Zeit sind für viele Deutsche die USA die große Hoffnung auf ein freies Leben. Aus Mecklenburg, bestehend aus den beiden verbundenen Herzogtümern Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, wandern dabei besonders viele aus, weil das Land nicht nur sehr arm ist, sondern auch unter den besonders rückständigen Verhältnissen leidet. So dürfen Juden etwa, anders als sonst fast überall in Deutschland, noch bis 1867 kein Land erwerben, keine öffentlichen Ämter bekleiden und sind in gewissen Städten, wie etwa in Rostock und Wismar nur mit ausdrücklicher Erlaubnis zugelassen. Bis Ende des Kaiserreichs wird Mecklenburg auch keine Verfassung haben. Wie Bismarck später in einem ihm zugeschriebenen Wort scherzen wird:

Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Mecklenburg, denn dort geht sie fünfzig Jahre später unter.

Die “Hamburger Wespen” werden hauptsächlich von ihrem verantwortlichen Redakteur Julius Stettenheim gemacht, gegen den wegen seiner demokratischen Haltung ein Haftbefehl in Preußen läuft. Da Preußen auch auf die meisten anderen Staaten in Deutschland durchgreifen kann, aber nicht auf Hamburg, kann Julius Stettenheim bis zur Amnestie nach dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 seine Heimatstadt nicht verlassen. 1867 zieht er dann nach Berlin, benennt sein Blatt in “Berliner Wespen” um und macht es zu einer der führenden Satireschriften des Kaiserreichs mit einer politischen Ausrichtung, die der Deutschen Fortschrittspartei nahesteht.

Die “Hamburger Wespen” bringt 1864 in Rage, daß in Mecklenburg die Prügelstrafe “verbessert” wird. Diese war zwar 1802 abgeschafft, aber 1852 wieder eingeführt worden. Zum Verständnis der Karikatur muß man zudem noch wissen, daß es die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs von 1861 bis 1865 ist. Mit der Emanzipations-Proklamation vom 22. September 1862, die per 1. Januar 1863 in Kraft tritt, ist die Sklaverei in den Südstaaten der USA für abgeschafft erklärt worden.

Lebensgeschichte eines Mecklenburgers.

In der Wiege

In  der Wiege.

In der Schule

In der Schule.

In der Lehre

In der Lehre.

Der Manngewordene

Der Manngewordene wird jetzt nicht mehr willkürlich,
sondern gesetzlich behandelt, aber sehr.

In Amerika

In Amerika endlich findet er bei seinen einstigen
Leidensgenossen die langersehnte Sicherheit.

[Dies ist eine Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 7. Mai 2013 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Offene Grenzen und das Recht auf Asyl

Rothkaeppchen

Im folgenden soll es darum gehen, zwei Konzepte miteinander zu vergleichen, die zwar in denselben Zusammenhang gehören, aber doch nicht zusammenfallen. In der Debatte werden sie allerdings oft vermischt. Daß das nicht immer vorteilhaft ist, soll schließlich aufgezeigt werden.

„Offene Grenzen“ stehen für einen Zustand, bei dem die Ein- und Auswanderung aus einem Land im Zweifelsfall frei ist. Jeder darf dorthin reisen, sich niederlassen oder eine Arbeit aufnehmen; jeder darf das Land verlassen. Zulässig könnten dabei allerdings bestimmte Beschränkungen der Bewegungsfreiheit sein, die für In- und Ausländer gleichermaßen gelten, etwa um einen Verdächtigen festzusetzen oder einen Verurteilten einzusperren. Ob er dabei in die Obhut des betreffenden Staates kommt oder eines anderen, sollte erst einmal keinen Unterschied machen. Eine Abschiebung ist von daher unter engen Bedingungen auch bei offenen Grenzen denkbar.

Besteht etwa ein entsprechendes Abkommen und liegen gute Gründe vor, so kann etwa ein flüchtiger Verbrecher einem anderen Staat überstellt werden, genauso wie zwischen verschiedenen Gliederungen eines Staates, etwa den deutschen Bundesländern. Beschränkungen kann es dabei natürlich geben, weil der eine Staat die Gründe des anderen Staates nicht anerkennt, beispielsweise weil das „Verbrechen“ im Inland keines ist oder im anderen Land Folter oder eine wesentlich härtere Strafe drohen. Ob ein Staat in solchen Fällen niemals ausliefert, nur unter bestimmten Umständen oder sogar immer auf Anfrage eines anderen Staates, darüber folgt aus dem Konzept der „offenen Grenzen“ zunächst einmal nichts.

Hier setzt ein Recht auf Asyl an, das unter bestimmten Umständen jemandem Schutz gewährt, zumeist bei Verfolgung aus politischen und diesen ähnlichen Gründen. Jemand darf nun nicht mehr an einen anderen Staat, jedenfalls nicht den, vor dem ihm Schutz geboten wird, ausgeliefert werden. Zudem könnte dem Asylanten auch Schutz gewährt werden vor Übergriffen, etwa wenn Häscher hinter ihm hergeschickt würden. Vorläufer eines Asylrechtes lassen sich dabei bis in das Altertum zurückverfolgen. So boten verschiedene Tempel in Griechenland Sklaven Schutz vor dem Zugriff durch Sklavenhalter, die sie mißhandelten. Später gab es im Mittelalter die Einrichtung, daß sich Verfolgte — durchaus auch jene, die ein regelrechtes Verbrechen begangen hatten — in eine Kirche flüchten durften. Allerdings war der Schutz dann meist nur vorübergehend: der Beschützte mußte sich nach einer Frist entscheiden, ob er sich selbst ausliefern oder seine Sünden bekennen und das Land verlassen wollte.

Ein Asylrecht im heutigen Sinne wurde erst später, nämlich erstmals als Artikel 120 der französischen Verfassung von 1793 verbrieft. Viele Staaten übernahmen solche Regelungen über die Zeit. Artikel 16a des Grundgesetzes erklärt ein solches Recht für Deutschland. Und in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948 wurde ein Recht auf Asyl allseits anerkannt.

Das klassische Land, das Verfolgten jeder Couleur Asyl gewährte, war lange die Schweiz. So flüchteten unter dem Sozialistengesetz viele deutsche Sozialdemokraten dorthin. Das Hauptorgan der Partei — „Der Sozialdemokrat“ — wurde aus Zürich heraus veröffentlicht. Und die Schweiz widerstand für ein ganzes Jahrzehnt dem massiven Druck Bismarcks, der durch seine offiziöse Presse Drohungen lancierte, man wolle die Schweiz annektieren. Die Sozialdemokraten wurden dann 1888 immer noch nicht ausgeliefert, sondern konnten unbehelligt hauptsächlich nach Großbritannien weiterziehen, bis das Sozialistengesetz 1890 nicht mehr verlängert wurde.

Dankbar erkannte das August Bebel an:

Nachdem die erste Überraschung bei unseren Gegnern vorüber war, brach in der gegnerischen Presse eine Hetze gegen die Schweiz los, »Kreuzzeitung« und »Reichsbote« voran. Sie verlangten die Ausweisung der Verschwörer aus der Schweiz und rieten zu dem Versuch, einen Hochverratsprozeß zu inszenieren. Aber das Verlangen der »Kreuzzeitung« und ähnlicher Organe, die Schweiz solle das Asylrecht mißachten und politisch mißliebige Personen ausweisen, hatte nur zur Folge, daß der im September tagende Schweizer Juristentag sich sehr entschieden für das Asylrecht aussprach. Der Grundsatz der Nichtauslieferung politischer Verbrecher sei unbeschränkt aufrechtzuerhalten. Die Schweiz solle in der Asylgewährung weitherzige Grundsätze betätigen, aber Spione, Agents provocateurs und ähnliches Gesindel mit Grund wegweisen. Ausweisung dürfe niemals einem fremden Staat zu Gefallen verhängt werden.

Wie man aus dem Beispiel der Schweiz im 19. Jahrhundert ersieht, kann ein Asylrecht auch bei offenen Grenzen gelten, die es im Wesentlichen damals gab. Es geht dabei nicht so sehr darum, daß jemand in das Land gelangen und dort bleiben kann, sondern darum, daß er nicht an einen anderen Staat ausgeliefert werden darf. Entsprechend ist ein Recht auf Asyl grundsätzlich auch unter mehr oder minder geschlossenen Grenzen denkbar. Natürlich gibt es eine gewisse Spannung. Etwa müßte ein Asylbewerber gleich an der Grenze sein Recht geltend machen können, wenn er dies nicht schon aus dem Ausland vermag. Da dies für Deutschland heutzutage nur möglich ist, wenn er auf dem Luftwege einreist oder vielleicht auf dem Seewege, weil es fast keine Grenzposten an den Landgrenzen mehr gibt, müßte er je nachdem zunächst einmal illegal einreisen, um dann erst Asyl zu beantragen.

Unter offenen Grenzen wäre ein Recht auf Asyl ein Privileg für gewisse Einwanderer. Sie könnten nicht ausgeliefert werden und hätten auch einen Anspruch auf Schutz vor Übergriffen aus dem Ausland. Zudem könnten sie ein Anrecht auf besondere Leistungen haben, wie etwa auf eine medizinische und psychologische Versorgung sowie Unterstützung finanzieller oder sonstiger Art, die anderen Einwanderern nicht zustehen würden.

Wie bis hierhin auseinandergesetzt wurde, sind also offene Grenzen und ein Recht auf Asyl zwei zwar miteinander einhergehende, aber doch unterschiedliche Konzepte. Ein Recht auf Asyl könnte es grundsätzlich auch unter weitgehend geschlossenen Grenzen geben. Umgekehrt könnte man sich genauso vorstellen, daß es offene Grenzen ohne ein Recht auf Asyl gibt. In der Debatte verschwimmen allerdings die beiden Konzepte oft. Hierfür gibt es mehrere Gründe:

  • Asyl als typische Form der Einwanderung. Aktuell sind die Grenzen für Einwanderer von außerhalb Europas weitgehend geschlossen, auch wenn die offenen Grenzen innerhalb Europas vielleicht einen anderen Eindruck vermitteln könnten. Eine und vielleicht die wesentliche Ausnahme ist dabei die Einwanderung unter Anrufung des Asylrechts. Es gibt zwar noch andere Wege, wie etwa eine Einwanderung als Kontingentflüchtling oder als Aussiedler, aber Einwanderung von außerhalb Europas scheint mit Asyl im Wesentlichen zusammenzufallen. Gäbe es andere Möglichkeiten für Einwanderung, so würde der Weg über das Asylrecht wohl eher in den Hintergrund treten.
  • Was man sieht und was man nicht sieht. Das Schicksal von Asylbewerbern und Asylanten ist relativ sichtbar. Abschiebungen führen drastisch vor Augen, was Zwang in diesem Zusammenhang bedeutet. Insofern hat man den Mißstand gewissermaßen „unter der Nase“. Hier greift eine Verfügbarkeitsheuristik, die das Naheliegende als das Typische ansetzt. Die Empörung über das, was man sieht, ist ganz zurecht groß. Was man allerdings nicht sieht, sind die Menschen, die es gar nicht einmal bis zu diesem Punkt schaffen oder die — wie gewollt abgeschreckt — es gar nicht erst versuchen.
  • Asyl als Weg des geringsten politischen Widerstands. Daß ein politisch oder ähnlich Verfolgter Schutz gewährt bekommt, ist relativ wenig umstritten, weil der Asylant sich gewissermaßen einen Anspruch auf Hilfe erworben hat. Selbst wenn ist das Asylrecht als Bestandteil des Grundgesetzes nur schwer aus der Welt zu schaffen. Und so ergibt sich eine Neigung, eine weitergehende Öffnung der Grenzen durch Umdeutung des Asylrechts herbeizuführen, etwa indem man auf den relativ vagen Begriff von “Flüchtlingen” rekurriert und auch andere Gründe konstruiert, die einen analogen Anspruch begründen sollen. Bei offenen Grenzen würde ein Recht zur Einwanderung hingegen jedem zustehen (bis auf gewisse wohlbegründete Ausnahmen), ohne daß ein besonderer Anspruch darauf begründet werden müßte.
  • Asylbewerber als dubiose Einwanderer. Auch für Gegner von Einwanderung kommt eine Gleichsetzung von offenen Grenzen und Asylrecht gelegen. Wenn unter geschlossenen Grenzen das Asylrecht fast der einzige Weg für Einwanderung von außerhalb Europas ist, darf man sich gar nicht wundern, daß auch viele kommen, die im strikten Sinne des Asylrechts keinen Anspruch haben. Man mag darüber diskutieren, ob hier Verfolgung je nachdem zu eng ausgelegt wird; aber selbst wenn ist es wohl richtig, daß die meisten Anträge auf Asyl unbegründet sind. Von daher ergibt sich ein Bild von Einwanderern als Betrüger, weil sie unwahre Behauptungen vorschützen.

Schlagworte wie „Asylmißbrauch“, „Scheinasylanten“ oder „Asylbetrüger“ sind zwar polemisch und auch herabsetzend gemeint, aber im engen legalen Sinne vielleicht nicht ganz falsch. Das Problem liegt nur woanders, weil Menschen durch die Gesetze ihr Recht im Sinne von Gerechtigkeit verwehrt wird. Man kann in einem solchen Falle durchaus argumentieren, daß es legitim ist, illegitime Gesetze zu umgehen, wie es etwa Ilya Somin unlängst getan hat. Doch der erste Eindruck ist natürlich, daß hier mit den Gesetzen auch das Recht mißachtet wird. Und dann ist ein solches Argument zur Legitimität von Illegalität in einem rechtspositivistisch geprägten Land wie Deutschland nicht unbedingt eingängig. In eine ungünstige Lage geraten dabei auch diejenigen, die das Asylrecht aufdehnen wollen. Entweder verstricken sie sich in unhaltbare Definitionen des Begriffs der „Verfolgung“ oder sie lassen allzu sehr durchblicken, daß das Asylrecht nur ein Mittel zum Zweck sein soll. Diese inhärente Unehrlichkeit wird von ihren Gegner dann genüßlich auseinandergenommen.

Aus der Sicht einer Position für offene Grenzen ist es ja nicht verkehrt, daß vielleicht auch mehr Menschen im Zuge des Asylrechts einwandern können, als das Recht an und für sich deckt. Aber man muß schon fragen, ob es wirklich zielführend ist, in dieser Richtung vorwärtszudrängen. Der nicht ganz falsche Eindruck, daß viele der eingereichten Asylanträge grundlos waren, führte in den 1990er Jahren zu einem Rückstoß gegen das Asylrecht insgesamt. Im Deutschen nennt sich eine solche Beschränkung dann eine „Verschärfung“, auch wenn eine Verschärfung eines Rechtes dem Wortsinne nach genau das Gegenteil sein sollte. Das wirkliche Problem nicht anzugehen und stattdessen das Asylrecht zu einem Recht auf begrenzte Einwanderung umzufunktionieren, wirkte hier letztlich eher kontraproduktiv.

Was folgt nun, wenigstens nach meiner Ansicht, für den Vertreter offener Grenzen?

Zum einen sollte man nicht an der Verwirrung der Begriffe mitarbeiten, nur weil man sich auf kurze Sicht davon eine gewisse Öffnung der Grenzen verspricht. Es ist sicherlich wünschenswert, daß das Asylrecht erhalten bleibt oder sogar wieder in den alten Zustand vor dem „Asylkompromiß“ von 1993 zurückzuversetzt wird. Die Auslegung sollte möglichst weit sein, die Bewerber nicht weggepfercht und ihnen nicht auf unwürdige Weise das Recht abgesprochen werden, mit ihrer Arbeit selbst für sich zu sorgen. Auch abgelehnte Asylbewerber sollten bleiben dürfen und Abschiebungen unterbleiben. Hier muß man sich gar nicht gegen die oft erhobenen Forderungen stellen, im Gegenteil.

Aber man sollte nicht versuchen, all diese Dinge durch eine Überbürdung des Konzeptes Asyl zu bewerkstelligen. Stattdessen muß einfach die grundsätzlich andere Frage aufs Tapet kommen, wie geschlossen oder offen die Grenzen allgemein sein sollten. Selbst mit allem Aufdehnen des Asylrechts kommt man hier nämlich nicht wirklich weiter. Und schlimmer noch: man bringt sich noch je nachdem in eine argumentativ sehr ungünstige Lage, wenn man nicht offen das ausspricht, was man eigentlich vertritt.

In diesem Sinne: Nicht offene Grenzen durch das Asylrecht, sondern offene Grenzen und das Recht auf Asyl.

Anmerkungen

  • Der knappe Ausdruck „Asylant“ ist aus dem Sprachgebrauch zurückgezogen worden, weil Begriffe auf „-ant“ angeblich automatisch negativ besetzt seien. Ich verwende ihn ohne jede beabsichtigte Wertung für diejenigen, die Asyl gewährt bekommen haben, weil ich diese Behauptung einfach nicht nachvollziehen kann. Beim ebenso neutralen Begriff „Praktikant“ ist mir eine solche Sensibilität noch nie begegnet.
  • Das Titelbild ist dem Satireblatt “Berliner Wespen” entnommen, die damit ihren Unmut über die Drohungen gegen die Schweiz Ausdruck verliehen. Es wurde am 20. April 1881 veröffentlicht und zeigt das Rotkäppchen “Schweiz” mit dem Korb “Asylrecht” in der Hand, das den Wölfen mit “Bangemachen gilt nicht!” trotzt. Auch wenn die Wölfe nicht näher bezeichnet sind, stehen sie wohl für Deutschland, eventuell auch für Rußland, das nach dem Attentat auf Zar Alexander II. am 13. März 1881 europaweit die Auslieferung von allen fordert, die es für Terroristen hält. Bismarck biedert sich mit seiner Bedrängung der Schweiz nicht zuletzt auch beim neuen Zaren Alexander III. an. Mehr zum Hintergrund findet sich in meinem Artikel “Wird die Schweiz der 40. Staat der USA?” auf dem Blog “Freisinnige Zeitung”.

Der Führer der Nationalliberalen gegen Abschiebungen

Am 30. September 1867 kommt das vom Bundeskanzler Otto von Bismarck eingebrachte Gesetz über das Paßwesen im Reichstag des Norddeutschen Bundes zur Debatte, das Pässe und Visa sowohl für Inländer als auch Ausländer abgeschaffen soll. Das Gesetz ist wenig umstritten. So wird die Beseitigung der Paßpflicht für Ausländer ohne Debatte sofort angenommen.

Allerdings geht das Gesetz den Parteien der Linken nicht weit genug. So bringt der Abgeordnete der Deutschen Fortschrittspartei Julius von Kirchmann ein Amendement (Verbesserung des Gesetzes) ein, das die Praxis willkürlicher Ausweisungen von Bürgern des Norddeutschen Bundes durch die Polizei, wie sie in Preußen nicht selten vorkommen, beenden soll (Nr. 35 der Reichstagsdrucksachen):

Der Reichstag wolle beschließen:

im § 10 hinter Alinea 4 nachstehendes Alinea 5 hinzuzufügen:

Polizeiliche Ausweisungen und Untersagungen des Aufenthalts an irgend einem Orte des Norddeutschen Bundes sind gegen Angehörige desselben nur zulässig auf Grund gerichtlicher Erkenntnisse, welche dazu ermächtigen, oder, wenn der Betreffende die öffentliche Unterstützung in Anspruch nimmt, nach näherer Bestimmung der Gesetze über die Armenpflege.

Alle dem entgegenstehenden Privilegien einzelner Ortschaften werden hiermit aufgehoben.

von Kirchmann.

Zu beachten ist dabei, daß es zu diesem Zeitpunkt nur um die Abschaffung von Pässen und Visa geht. Die Freizügigkeit wird erst in einem zweiten Schritt durchgesetzt, welche Beschränkungen aufgrund der „öffentlichen Unterstützung“ ebenfalls abschafft und auch von der Deutschen Fortschrittspartei unterstützt wird. Die Einschränkung im Antrag dient nur dazu, die beiden Fragen nicht an dieser Stelle zu verquicken.

Der Abgeordnete der demokratischen und großdeutschen Sächsischen Volkspartei (und spätere Führer der Sozialdemokraten) Wilhelm Liebknecht möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und auch die Ausweisung von Ausländern mit denselben Ausnahmen unmöglich machen. Sein Amendement lautet (Nr. 39 der Reichstagsdrucksachen):

Der Reichstag wolle beschließen:

im Abänderungs-Vorschlage des Abgeordneten von Kirchmann (Nr. 35) die Worte:

“gegen Angehörige desselben”

(in der 3. Zeile des Vorschlags) zu streichen.

Liebknecht.

Es kommt nun zu einer Debatte, bei der von Kirchmann und Liebknecht ihre Amendements begründen. Nach ihnen erhebt sich der Führer der Nationalliberalen Eduard Lasker und befürwortet sowohl das Amendement Kirchmann als auch das Unter-Amendement Liebknecht mit diesen Worten:

Abgeordneter Lasker: Meine Herren! Ich werde Ihnen für Ihre Freundlichkeit mit recht kurzen Worten danken. Ich will sowohl das Amendement des Abgeordneten v. Kirchmann wie auch das Unter-Amendement, welches der Abgeordnete Liebknecht dazu gestellt hat, befürworten, und sehe mich noch ganz besonders veranlaßt, das letztere zu befürworten, weil der Herr Abgeordnete Liebknecht am Schlusse seiner Rede auf ein Gebiet sich verirrt hat, das mit dem gegenwärtigen Gesetz nicht im Zusammenhange steht, und das gegen sein Unter-Amendement vielleicht ein gewisses Vorurtheil hervorgerufen hat. Meine Herren, nach den Preußischen Gesetzen oder vielmehr nach den Preußischen Gewohnheiten — denn ein Ausweisungsrecht besteht in Preußen überall nicht — ist die Praxis der polizeilichen Ausweisungen an die Aufenthalts-Karten geknüpft worden. In einer Instruction des Ministers des Innern — ich glaube, sie rührt aus dem Jahre 1851 her — deducirt dieser: Weil die Fremden Aufenthalts-Karten nehmen müssen, so folge daraus, die Polizei könne die Aufenthalts-Karten verweigern, folglich auch die Fremden ausweisen, was gleichbedeutend sei mit der Verweigerung der Aufentha[l]ts-Karten. Diejenigen also, welche meinen, daß die Materie dem gegenwärtigen Paßgesetze fremd sei, sind nicht richtiger Ansicht. An der Stelle, wo die Gewährung der Aufenthalts-Karten aufgehoben wird, paßt es auch, die falsche Praxis der Polizei gesetzlich aufzuheben.

Das Amendement Liebknecht rechtfertigt sich meiner Ansicht nach ganz von selbst, ohne daß man gerade großdeutsche Gelüste damit in Verbindung zu bringen braucht; es rechtfertigt sich dadurch, weil es eine Art Barbarei ist, in dem gastlichen Rechte des Aufenthalts einen Unterschied zu machen zwischen Ausländern und Einheimischen. Nicht nur jeder Deutsche, sondern jeder Mensch hat das Recht, nicht wie ein Hund weggejagt zu werden. Da nun die gegenwärtige Regierung in Preußen, wie sie durch ihre Vertreter mehrfach hervorgehoben hat, daß sie die polizeiliche Praxis nicht liebt, der Mißbrauch der Ausweisungen aber, der in Preußen zu Tausenden gehandhabt worden ist, nur auf polizeilicher Praxis beruht, so dürfen wir auf ihre Zustimmung rechnen. Benutzen wir daher die erste Gelegenheit, den Mißbrauch abzuschaffen. Ich empfehle Ihnen dringend das Amendement Kirchmann nebst dem Unter-Amendement Liebknecht.

Die Nationalliberalen folgen aber ihrem Führer hierin nicht. Sowohl das Amendement Kirchmann als auch das Amendement Liebknecht werden vom Reichstag abgelehnt.

Keine Pässe, keine Visa – welches Land macht denn sowas?

Ein kleines Ratespiel. Das Land, um das es geht, hat ein Gesetz erlassen. Der erste Paragraph des Gesetzes sichert jedem Bürger zu, daß er weder beim Verlassen noch bei der Wiedereinreise und natürlich erst recht nicht beim Reisen innerhalb des Landes ein Reisepapier braucht.

Da es andere Länder gibt, die ein Reisepapier verlangen, hat jeder mit geringen Auflagen ein Anrecht, ein Reisepapier ausgestellt zu bekommen, wofür aber höchstens ein mäßiger Betrag als Gebühr verlangt werden darf.

Doch es kommt noch verrückter: Im zweiten Paragraphen des Gesetzes wird sogar allen Ausländern — ja, allen! — zugesichert, daß sie weder bei der Einreise, der Ausreise noch beim Aufenthalt im Land ein Reisepapier benötigen. Sie müssen sich nur, wie auch die Bürger, auf amtliches Verlangen hin über ihre Person ausweisen können. Niemand braucht zudem Reisepapiere vorlegen, um ein Visum zu bekommen.

Diese völlige Abschaffung aller Reisepässe und Visa kann nur unter ganz besonderen Umständen und vorübergehend ausgesetzt werden, etwa während eines Krieges oder bei Unruhen.

Welches Land macht denn sowas?

Am 17. September 1867 „beehrt sich“ der Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes Otto von Bismarck, dem Norddeutschen Reichstag ein „Gesetz über das Paßwesen“ zur Annahme „ganz ergebenst vorzulegen.“ Das Gesetz wird in nur wenig veränderter Form mit großer Zustimmung vom Reichstag angenommen.

„Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen“ verfügt das Gesetz dann „[u]rkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Bundes-Insiegel“ am 12. Oktober 1867. In Kraft tritt es per 1. Januar 1868. Mit der Reichsgründung 1871 wird die Geltung des Gesetzes auf ganz Deutschland ausgeweitet.

Das „Gesetz über das Paßwesen“ kommt dabei nicht aus heiterem Himmel. In der „Dresdner Konvention“ vom 21. Oktober 1850 ist bereits die Visumspflicht innerhalb Deutschlands abgeschafft worden. Im Jahr 1859 schließt sich Österreich-Ungarn dem Abkommen an. Allerdings benötigt man zum Reisen noch eine „Paßkarte“.

Am 7. Juli 1865 machen Bayern, Sachsen, Hannover und Württemberg den nächsten Schritt und schaffen Paßpflicht und alle Visa ab — auch für Ausländer. Dem schließen sich bald andere deutsche Staaten an. Der Norddeutsche Bund vollzieht dies dann zwei Jahre später nach. Allerdings ist Deutschland hier eher ein Nachzügler. Die Schweiz und Schweden haben Paßpflicht und Visa schon längst für alle Länder abgeschafft, Frankreich, Belgien und die Niederlande für andere Länder auf Gegenseitigkeit.

Aufschlußreich für den liberalen Geist der Zeit ist die Begründung in den Motiven zum „Gesetz über das Paßwesen“. Diese hält sich nicht lang mit Argumenten auf:

„[N]ach den Ansichten, welche in neuerer Zeit allgemein über diesen, einen großen Theil der Bevölkerung nahe berührenden Gegenstand sich geltend gemacht haben, werden weder die gleichmäßige Regelung des Paßwesens für das ganze Gebiet des Bundes durch ein Bundesgesetz, noch auch diejenigen Grundsätze einer besonderen Rechtfertigung bedürfen, von welchen allein bei dem Erlaß eines solchen Gesetzes ausgegangen werden kann. Es darf die freie Bewegung des unverdächtigen Reisenden nicht durch Maßregeln gehemmt und gestört werden, welche keinen anderen Zweck haben, als den Verdächtigen auf die Spur zu kommen, deren Anzahl gegen die stets wachsende Zahl der Reisenden überhaupt doch immer nur verschwindend klein ist; es mußte namentlich davon ausgegangen werden, daß der Paßzwang, welcher seit der außerordentlichen Vermehrung des Reiseverkehrs ohnehin nicht mehr durchführbar war, auch gesetzlich aufzuheben sei.“

Pässe und Visa seien sowieso überflüssig, so führen die Motive weiter aus:

„Bei der Beurtheilung des Entwurfs im Allgemeinen ist zunächst der Zweck desselben ins Auge zu fassen, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß durch die darin bundesgesetzlich ausgesprochene Aufhebung des Paßzwanges weder die Wirksamkeit der Polizei bei der Verfolgung wirklich gefährlicher Individuen beeinträchtigt, noch auch andere dem Paßwesen verwandte Institute, welche aber einen anderen Zweck verfolgen, beseitigt werden sollten. Der Entwurf bezweckt, den gewöhnlichen Reiseverkehr von den Unbequemlichkeiten und Belästigungen des Paßzwanges zu befreien. Niemand soll verpflichtet sein, bloß aus dem Grunde, weil er seinen gewöhnlichen Wohnort verläßt, sich mit Legitimationspapieren zu versehen und solche auf der Reise den verschiedenen Polizeibehörden zum Visiren vorzulegen.“

Die einzige Ironie des „Gesetzes über das Paßwesen“ ist nur, daß es ausgerechnet von Otto von Bismarck vorgelegt wird, der knapp zwanzig Jahre später daran gehen wird, die Grenzen wieder zu schließen und damit eine Entwicklung einleitet, die zu den späteren Zuständen mit „Unbequemlichkeiten und Belästigungen“ geführt hat.

Deutschland war also schon mal weiter. Und leider marschiert Bayern nicht mehr an der Spitze des Fortschritts. Aber die Geschichte ist ja noch nicht zuende.

Die Lösung der Rastlbinderfrage

Im Vorlauf zu den Reichstagswahlen 1881 formiert sich die sogenannte “Berliner Bewegung”, die versucht, die Deutsche Fortschrittspartei aus ihrer Hochburg Berlin herauszudrängen. Das Hauptmittel dieser Bewegung ist der Antisemitismus. So wird etwa eine “Antisemitenpetition” aufgelegt, in der als ein Punkt gefordert wird, Juden die Einwanderung nach Deutschland zu verwehren. Bislang hatte Deutschland fast völlig offene Grenzen gehabt. Doch das beginnt sich zu ändern.

So entdeckt die offiziöse “Post” im September 1881 eine neue Gruppe, die man zu einer Bedrohung aufbauen und auf der man herumhacken kann: die “Rastlbinder”. Vor allem arme Slowaken wandern durch Europa und versuchen sich, unter anderem in Berlin, durchzuschlagen als fliegende Händler und Handwerker. Nun sollen sie nach Meinung der “Post” ausgewiesen werden.

Dagegen stellt sich das von Julius Stettenheim redigierte Satireblatt “Berliner Wespen”, das seit längerem bereits die Antisemiten verspottet und der Deutschen Fortschrittspartei nahesteht:

Berliner Wespen, 21. September 1881

Zum Schutz der Industrie.

“Ihr armen Slovakenkinder,
Ihr schmutzigen Rastlbinder,
Die Ihr für Logis und Kost
Hausirt hier” — so spricht die “Post!” —

“Ihr schädigt sämmtliche Menschen,
Indem Ihr in vaterländ’schen
Erzeugnissen macht, zugleich
Aussaugend das deutsche Reich.”

“Auch Ihr mit dem Leierkasten
Vermehrt uns’re schweren Lasten ——
Der ganze ausländische Trupp
Muß über die Grenze per Schub!”

Ade denn, Ihr Vagabunden,
Und bis Ihr zum Leben gefunden.
Einen baaren Reptilienfonds,
Packt Euch! Pascholl! Allons!

Berliner Wespen, 28. September 1881

Der Rastlbinder.

Nach Forschungen der “Post”.

Wie der Rastlbinder aussieht. Schon im Aeußern verräth der Slovake die ungeheuren Reichthümer, in deren Besitz er sich durch fortgesetzte ungehinderte Aussaugung unserer deutschen Mitbürger zu setzen verstanden hat. Er ist groß und wohlbeleibt, seine Nase vom Weingenuß geröthet, um seinen Mund spielt das Lächeln des gewohnheitsmäßigen Sybariten, seine Haltung ist dandyhaft. An der Hand, mit der er seine Mausefallen feilbietet, bemerkt man Ringe mit blitzenden Solitärs.

Wovon der Rastlbinder sich ernährt. Hat der Rastlbinder den ganzen Tag über schlechte Geschäfte gemacht, so begnügt er sich mit einem einfachen Souper von sechs bis acht Gängen, welches er in einem bürgerlichen Vorstadtrestaurant einnimmt, und trinkt Moselwein dazu.  Hat er aber eine Blechpfanne verkauft, oder einen Topf geflickt, so verwendet er den Erlös sofort, um sich damit ein lukullisches Mahl bei Hiller oder Dressel zu bereiten, woselbst man allabendlich die Slovaken in langen Reihen prassen und schlemmen sieht.

Wo der Rastlbinder wohnt. Die geradezu fabelhaften Summen, welche die Slovaken für ihre Draht- und Blechwaaren zu erpressen verstehen, setzen sie in den Stand, trotz ihres schwelgerischen Lebens soviel zu erübrigen, daß Jeder von ihnen nach kaum einjährigem Aufenthalt in der Reichshauptstadt Eigenthümer einer Villa im Thiergarten wird, so daß man mit Sicherheit das Prognostikon stellen kann, Berlin W. werde in fünfzig Jahren entweder verrastlbindert oder verdrehorgelt sein.

Wie die Rastlbinderfrage zu lösen ist. Die einzig radicale Lösung ist von den Forschern der “Post” bereits vor einigen Tagen in der polizeilichen Ausweisung der Slovaken gefunden und damit begründet worden, daß es nicht abzusehen sei, warum wir unser Vaterland durch fremde Rastlbinder aussaugen lassen sollen. Erscheint diese Maßregel zu hart, so müßten von Seiten der Behörde mindestens folgende Anordnungen getroffen werden: Es wird den Rastlbindern untersagt, sich ihre schlechten und billigen Waaren von den Käufern mit Gold aufwiegen zu lassen. Es wird ihnen verboten, vier- und mehrspännig auszufahren und Vorreiter zu halten. Slovakische Gelage und Festivitäten dürfen nur im Beisein eines überwachenden Polizei-Lieutenants abgehalten werden. In den Theatern wird den Rastlbindern der Zutritt zum Parket und ersten Rang verwehrt. Durch derartige Einschränkungen könnte man diesen Aussaugern den Aufenthalt in unserm Vaterlande so verleiden, daß sie ihm von selbst in kürzester Frist den Rücken kehren würden. Damit wäre die Rastlbinderfrage gelöst.

[Dies ist eine Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 26. September 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Haben offene Grenzen die Weltgeschichte verändert?

Spielen wir einmal ein alternatives Szenario durch: Angenommen, jegliche Einwanderung von Deutschen nach Amerika wäre von Anfang an unterbunden worden. Grenzschützer hätten dafür eine Menge an Argumenten auf ihrer Seite gehabt: Deutschland war eine Brutstätte für allerlei kollektivistische Ideologien, die der amerikanischen Freiheit feindselig gesonnen waren: rabiater Nationalismus, Antisemitismus, Kommunismus und Nationalsozialismus. Der IQ von deutschstämmigen Amerikanern ist bestenfalls durchschnittlich. Deutsche Einwanderer paßten sich nur langsam an und hielten an der deutschen Sprache fest. Und dann natürlich absonderliche Verhaltensweisen, etwa daß Minderjährige Bier trinken dürfen. Usw. Gehen wir nun ins Jahr 1940 zurück.

Die USA hatten damals eine Bevölkerung von 132 Millionen, Deutschland inklusive Österreich eine von 79 Millionen. Die amerikanische Bevölkerung war also 67% größer als die “Großdeutschlands”.

Heutzutage geben 17% der Amerikaner an, aus Deutschland zu stammen, wobei man sich wohl meist am Namen orientiert, der auch aus Österreich kommen könnte. Da es nur eine geringe Einwanderung aus Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich mit anderen Gruppen gab, sollte der Anteil 1940 eher höher gewesen sein. Nehmen wir also an, daß ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung 1940 deutschstämmig war. Im alternativen Szenario würde die amerikanische Bevölkerung um 33 Millionen kleiner ausfallen, also nur noch 99 Millionen betragen. Fügen wir die 33 Millionen der deutschen Bevölkerung hinzu, so erhält man hingegen 112 Millionen. “Großdeutschland” hätte damit eine um 12% größere Bevölkerung als die USA gehabt. Das entspricht dem Eintritt einer  Großmacht von 66 Millionen in den Krieg auf der Seite der Achsenmächte.

Schlimmer: die drei Oberbefehlhaber der amerikanischen Teilstreitkräfte waren alle deutschstämmig. Natürlich nicht nur, sodaß es sie im alternativen Szenario vermutlich nicht gegeben hätte. Wenn doch, dann wäre General Eisenhower vielleicht eher Generalfeldmarschall Eisenhauer in der deutschen Armee gewesen. Genauso Chester Nimitz, nun als Generaladmiral Nimitz für die Marine, und Carl Andrew Spaatz für die Luftwaffe (als Generalfeldmarschall Karl Andreas Spatz, das zweite ‘a’ nahm er an, um die richtige Aussprache für Amerikaner klarzumachen, was in Deutschland unnötig gewesen wäre). Und mehr als eine Fußnote: William Patrick Hitler, der Halbneffe des Führers, hätte wohl auch kein Purple Heart für seinen Dienst in der amerikanischen Marine erhalten.

Es lohnt nicht, das alternative Szenario weiterzuspinnen und zu behaupten, die Achsenmächte hätten nun den Krieg gewonnen. Aber auch das Gegenteil zu argumentieren, scheint nicht ganz einfach zu sein. In einer Welt mit fest verschlossenen Grenzen für Bürger Deutschlands, Italiens und Japans müßte man auch noch Millionen deutscher Auswanderer und ihre Nachkommen aus dem britischen Weltreich, etwa Kanada, Australien und Neuseeland, zurückschicken. Und dasselbe für den nicht unbeträchtlichen Anteil italienischstämmiger Amerikaner.

Wie gut haben sich denn die grenzschützerischen Vorhersagen in der Wirklichkeit geschlagen? Eine fünfte Kolonne ins Land zu lassen, könnte ja desaströse Konsequenzen haben. Totales Ri-si-ko für die USA?

Nicht wirklich. Vorfälle von Verrat und Illoyalität waren eine verschwindene Ausnahme und die “Weihnachtserklärung der Männer und Frauen deutscher Abstammung” weitaus repräsentativer:

“[W]ir Amerikaner deutscher Abstammung erheben unsere Stimme und verurteilen die Politik Hitlers, kaltblütig die Juden Europas auszurotten, und gegen die barbarischen Taten der Nazis, die gegen unschuldige Völker unter ihrer Herrschaft begangen werden. Diese Greuel … sind besonders für jene wie uns eine Herausforderung, die wir selbst Nachkommen eines Deutschlands sind, das einst in der ersten Reihe der Zivilisation stand … [W]ir verwerfen jeden Gedanken und jede Tat Hitlers und seiner Nazis … [und rufen Deutschland auf,] ein Regime zu stürzen, das die Schande der deutschen Geschichte ist.”

Moral: Man kann auf Einwanderer als Menschen schauen, die vielleicht eine gewisse Loyalität ihrem alten Land und seiner Kultur gegenüber behalten. Wenn diese Kultur durch und durch kollektivistisch ist, wie es für Deutschland 1940 der Fall war, sieht das nicht gut aus. Die Anpassung mag langsam und unvollständig sein.

Doch das heißt, sich die Sache nur aus der begrenzten Perspektive eines einzelnen Landes anzuschauen. Sieht man sie sich auf globalem Niveau an, ist das Ergebnis anders. Sogar unvollständige Anpassung bedeutet, daß mehr Menschen weniger an ihren vorherigen Ansichten hängen, und es einige (und im Fall der deutschstämmigen Amerikaner sogar viele) gibt, auf die der Kollektivismus keinen Zugriff mehr hat. Offene Grenzen unterminieren den Kollektivismus.

Ist man also besorgt um die Freiheit der Welt auf lange Sicht, dann sollte man so viele Menschen wie möglich haben wollen, die nicht in kollektivistischen Gesellschaften festsitzen und durch totalitäre Staaten indoktriniert werden können, und so viele wie möglich, die der Freiheit ausgesetzt sind und eine Chance haben, ihre Meinungen in einer offenen Gesellschaft zu ändern.

Die Welt hat Glück gehabt, daß Freiheit und offene Grenzen für eine lange Zeit zusammengingen.

[Dies ist eine frei übersetzte und überarbeitete Version eines Artikels, der zuerst auf dem Blog Open Borders und dann dem Blog Freisinnige Zeitung erschienen ist.]

Einwanderungsland Preußen

Ab 1885 wurden auf Betreiben des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck im Zuge der “Polenausweisungen” 35.000 österreichisch-ungarische und russische Staatsangehörige, unter ihnen etwa 10.000 Juden, aus Preußen ausgewiesen. Die sogenannten “Überläufer” hatten oft seit Jahrzehnten dort gelebt, je nachdem Einheimische geheiratet (ihre preußischen Frauen verloren bei Heirat die Staatsangehörigkeit) und sich teilweise schon so weit als Preußen gefühlt, daß sie in der Armee gedient und an den Kriegen Preußens teilgenommen hatten, obwohl sie das gar nicht mußten.

Von Protesten nicht nur der Polen, sondern auch des katholischen Zentrums sowie aller Parteien der Linken, der Deutsch-Freisinnigen Partei, der Deutschen Volkspartei und der Sozialdemokraten, ja bisweilen sogar von konservativen Gutsbesitzern, deren Arbeiter abgeschoben wurden, ließ sich Bismarck nicht beirren. Angeblich ging es ihm darum, einer Polonisierung Preußens Einhalt zu gebieten. Aber selbst seine Anhänger bei den Konservativen und Nationalliberalen taten sich schwer, dafür die Argumente beizubringen. Als nächster Schritt wurde ein staatliches Aufkaufprogramm für polnische Güter auf den Weg gebracht und mit 100 Millionen Mark (etwa 1 Milliarde Euro nach Kaufkraft) dotiert.

Am 15. Januar und am 16. Januar 1886 kam es dann zu einer hitzigen Debatte im Reichstag. Die Mehrheit aus Deutsch-Freisinnigen, Deutscher Volkspartei, Zentrum, Sozialdemokraten und Polen verabschiedete schließlich eine Verurteilung der Maßnahmen, was von der offiziösen Presse als Sieg der “Reichsfeinde” gewertet wurde. Bismarck sorgte dafür, daß die Resolution des Reichstags im preußischen Landtag von seinen Unterstützern unschädlich gemacht wurde.

Seitens der Deutsch-Freisinnigen verurteilten die Ausweisungen Ludwig Bamberger, Ludwig Löwe, Heinrich Rickert und besonders eindringlich Julius Otto Ludwig Möller, der die Resolution der Partei, den Antrag Ausfeld und Genossen, begründete:

“Denn leider habe ich ja lieblose Aeußerungen hören müssen wie die: “Was gehen uns jene Fremden an? wer hat sie überhaupt geheißen, hierher zu kommen?” Ich will nun freilich die Frage ganz unerörtet und unentschieden lassen, ob diese Leute einen geschriebenen Satz des Völkerrechts zu ihrem Schutze anrufen könnten; das aber weiß ich doch, daß es ein Recht gibt älter und heiliger als alle geschriebenen Satzungen und Verträge, ein Recht, das schon heilig gehalten worden ist im Anfange aller Kultur: das Gastrecht! Und ich meine, daß es eines Volkes, welches, wie das deutsche, mit Recht stolz ist auf seine Kultur und seine Humanität, am allerwenigstens würdig sein kann, dieses alte heilige Recht zu verletzen oder auch nur ohne den entschiedensten Widerspruch verletzen zu lassen. Oder meinen Sie nicht, daß die gegenwärtigen Vorgänge einen Flecken auf den deutschen Namen werfen? (Sehr richtig! links.)”

Quelle: Digitale Sammlungen ULB Darmstadt

Die von den freisinnigen Politikern Eugen Richter, Ludolf Parisius und Hugo Hermes herausgegebene Wochenzeitung “Der Reichsfreund” — der Name bezog sich auf den Dauervorwurf, reichsfeindlich zu sein — begleitete die Ausweisungen mit einer Serie kritischer Berichte. So erinnerte man am 13. Februar 1886 daran, daß mit den Massenausweisungen die Tradition der Hohenzollern gebrochen wurde, die Preußen zu einem Einwanderungsland gemacht hatten:

Alte und neue Kolonisationen.

Die Hohenzollern kümmerten sich bei ihren Kolonisationen nicht um Religion und Nation ihrer Kolonisten — jeder ordentliche, fleißige Mann war ihnen recht, mochte er aus dem deutschen Reich oder aus Oesterreich, aus der Schweiz oder aus den Niederlanden, aus Italien oder Frankreich, aus Polen oder Rußland sein — mochte er Katholik oder Lutherisch oder Reformirt oder Griechischkatholisch, mochte er Hussit oder mährischer Bruder, Baptist oder Mennonit oder Phillipone oder Jude sein, mochte das Deutsche oder das Französische, das Italienische oder das Russische oder Polnische oder Tschechische seine Muttersprache sein. So hat der große Kurfürst in das verödete Brandenburg-Preußische Land Menschen hereingezogen — in die Kurmark z. B. durch Niederländer das “Holländische Bruch” bebauen lassen, in Berlin und anderen Städten durch französische Hugenotten eine nie gesehene Gewerbthätigkeit hervorgerufen. So hat Friedrich I. Waldenser, Pfälzer, Wallonen herangezogen, in Litthauische und Masurische Wüsten Schweizer verpflanzt. So hat Friedrich Wilhelm I., der freilich keine Polen und Juden leiden konnte, Ostfriesen und Niederländer und Polnische Mennoniten aufgenommen, auch 20,000 Salzburgern und den böhmischen Exulanten Besitzstand in Stadt und Land angewiesen. Friedrich der Große wünschte in Schlesien die Nationalitäten zu mischen, — wo alles polnisch ist, sollten nur Deutsche und in deutschen Gegenden polnische Leute angesetzt werden, aus dem Erzherzogtum Oesterreich und Steiermark, aus Böhmen, aus Ungarn und Siebenbürgen kamen sie gezogen, Italiener und Griechen — letztere aus Mazedonien, wurden nach Breslau berufen. Böhmen, die nur tschechisch sprachen, saßen in Rixdorf und Nowawes, Köpenick und Boxhagen bei Berlin, “Polnische Ueberläufer” erhielten sechsjährige Steuer- und Zollfreiheit. Dazwischen gab es eine Württembergische Kolonie und vom hessischen Amte Lichtenberg kamen an die 400 Familien nach der Neumark. In Westpreußen wurden alle Städte mit Auswanderern “meliert”. Die Schwabendörfer sind noch jetzt von den Polnischen auch äußerlich zu unterscheiden.

So früher. Jetzt werden erst an die 30,000 bis 40,000 Menschen, weil sie Oesterreichische oder Russische Staatsangehörigkeit haben, ohne Unterschied der Nation und der Religion ausgewiesen, und dann sollen durch viele Millionen Mark die Polnischen Güter ausgekauft werden, um an deutsche Ansiedler — nicht zur “Melirung” — sondern unter Ausschluß ehelicher Mischung — an Deutsche, die keine Polinnen heiraten, vergeben zu werden. Die deutschen Ansiedler dürfen nicht etwa “Deutsche” aus Oesterreich oder Rußland sein, — nein! nein! aus dem deutschen Reiche von Westen und Süden sollen sie auf polnischen Grund und Boden eingepflanzt werden.

Das stimmt alles herzlich wenig mit der alten Kolonisationspolitik der Hohenzollern — mit solchen Künsten wird der Reichskanzler keine Erfolge erzielen!

[Dies ist eine Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 27. April 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Wirtschaftsflüchtlinge 1881

1881 erreicht die Auswanderung aus Deutschland einen Höchststand mit 220.902 Emigranten. Eines der Schiffe auf der Route nach Amerika ist der Dampfer “Vandalia”. Am 19. Juni 1881 verläßt er Hamburg mit 1000 hauptsächlich deutschen Auswandern an Bord: Kurs New York.

Wie die neuseeländische Evening Post am 24. September 1881 berichtet, geschieht dann das folgende:

Drei Tage nach Ablegen versagt der Antrieb und die “Vandalia” treibt hilflos auf dem Meer westlich der Isle of Lewis umher. Da es keine Nachrichten gibt, wird befürchtet, daß das Schiff gesunken sein könnte. Doch dann wird die “Vandalia” von einem schwedischen Schiff entdeckt, das Hilfe holt. Die Versuche eines weiteren russischen Schiffs, die “Vandalia” in Sicherheit zu bringen, scheitern jedoch.

Als der Postdampfer “Express” den Dampfer wiederfindet, brechen die Passagiere in Jubel aus. Zusammen mit der größeren “Conqueror” wird die “Vandalia” am 7. Juli in Schlepptau genommen und nach Stornoway gebracht. Da es dort keinen sicheren Platz gibt, geht es weiter nach Greenock, wo man am 9. Juli 1881 anlangt. Den Passagieren wird angeboten, auf ein anderes Schiff umzusteigen. Sie bleiben aber der “Vandalia” treu und fahren mit ihr weiter nach New York.

File:Berliner Wespen.png

Das Satireblatt “Berliner Wespen” bedankt sich — ausnahmsweise ernst gestimmt — für die Rettung am 13. Juli 1881 mit einem Gedicht:

 

“Vandalia” und “Conqueror”

“Vandalia”, die wir glaubten schon verloren
Im Kampfe mit dem zornentbrannten Meer,
Sei uns gegrüßt, die Du wie neugeboren
Gerettet in den Hafen kommst daher.

Und lauter Jubel dringt zu unsern Ohren —
An die wir dachten schon so sorgenschwer,
Sie kehren heim, kein Einz’ger ist verloren.
O doppelt freudenvolle Wiederkehr!

Du aber, “Conqueror”, der Du als Retter
Erschienst, ein treuer Bote güt’ger Götter,
Und von uns nahmst der Sorge schwere Last.

Du bist Erob’rer, nicht nur wirst Du tragen
Den Namen, nein, Du bist’s nach kühnem Wagen
Da Du erobert uns’re Herzen hast!

[Dies ist ein leicht überarbeiteter Artikel, der zuerst auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” am 12. Juli 2012 erschienen ist.]