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Mit Mindestlöhnen gegen offene Grenzen?

Vor den letzten Bundestagswahlen stellte sich ein breiter Konsens ein, in Deutschland Mindestlöhne einzuführen. Nach langjährigem Widerstand schlossen sich dem auch Parteien wie die CDU, CSU und die FDP an, von denen man es vielleicht nicht erwartet hätte. Ich habe den Ablauf nicht gut genug verfolgt, um einschätzen zu können, was die Hauptbeweggründe waren. Auf den ersten Blick schien es ein weiterer Schachzug zu sein, die Sozialdemokraten bei ihren Forderungen auszubooten.

Aber ich hätte noch eine andere Vermutung, was durchaus mit Mindestlöhnen auch bezweckt sein könnte: eine Abschottung gegen Menschen in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Wer mit seiner Arbeit nur so wenig produktiv ist, daß er bloß einen sehr niedrigen Lohn erlösen kann, für den ist ein Mindestlohn nicht die Garantie eines höheren Lohnniveaus, sondern ein Arbeitsverbot. Für Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen und hier arbeiten wollen, aber aufgrund von geringeren Sprachkenntnissen oder einem niedrigeren Ausbildungsstand wenig produktiv wären, kann ein Mindestlohn von daher genauso abriegelnd wirken wie eine geschlossene Grenze.

Ein Gegenargument könnte hier sein, daß Mindestlöhne ja gar nicht so wirken, wie ich es voraussetze, und durchaus in der Lage sind, das Lohnniveau anzuheben, ohne daß es dabei zu Beschäftigungsverlusten käme. Viel zitiert sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Card und Krueger aus den USA, die in gewissen Situationen ein solches Ergebnis finden. Auch wenn mir dies vielleicht intuitiv nicht eingeht, würde ich die Möglichkeit zugestehen, daß ich etwas übersehe. Ich übersehe aber nicht, daß es sich bei den in den Arbeiten betrachteten Situationen um eine eher geringe Anhebung eines bestehenden Mindestlohnes handelt. Daß ein solches Ergebnis auch für eine massive Anhebung gelten könnte, das würde ich auf jeden Fall bezweifeln. Wer das vertritt, sollte mir jedenfalls, ohne zu lachen, erklären, daß bei einem Mindestlohn von 100 Euro pro Stunde, einfach nur die Löhne angehoben würden, ohne daß eine einzige Stelle wegfällt. Und wenn es um Mindestlöhne für Einwanderer aus armen Ländern geht, dann sprechen wir über massiv höhere Löhne, als diese wenigstens zu Beginn oft mit ihrer Arbeit erreichen könnten.

Daß man einen hohen Mindestlohn genau mit einer solchen Motivation vertreten kann, zeigt etwa Ron Unz, der sich 1994 erfolglos bemühte, als republikanischer Kandidat für den Posten des kalifornischen Gouverneurs aufgestellt zu werden, und seitdem seine Ziele eher mit Volksabstimmungen durchsetzen möchte. Sein neuestes Hirnkind ist der Vorschlag, den kalifornischen Mindestlohn 2015 auf 10 Dollar pro Stunde und ab 2016 sogar auf 12 Dollar anzuheben. Was seine Beweggründe sind, hat er dabei offen vertreten. Es geht ihm darum, vor allem illegale Einwanderer zu schädigen. Die innere Logik des Vorschlags ist dabei stimmig: Während es schwerfällt, die illegalen Einwanderer an der Grenze aufzuhalten, läßt sich die Einhaltung eines Mindestlohnes wesentlich leichter überwachen und durchsetzen. Arbeitgeber werden durch drakonische Strafen dazu angehalten, sich als Hilfssheriffs des Staates zu betätigen.

Bin ich paranoid, ähnliche Motivationen auch in Deutschland zu vermuten?

Ich brauche nicht weiter als bis zu den deutschen Gewerkschaften zu blicken. Der Vorsitzende von Ver.di Frank Bsirske rechtfertigte einen Mindestlohn 2010 im Vorlauf zur Grenzöffnung für die osteuropäischen Beitrittsländer wie Polen etwa gegenüber der „Berliner Zeitung“ damit, daß sich so „soziale Verwerfungen“ durch Zuwanderung verhindern ließen.

Man muß sich diese Behauptung einmal in das Deutsche übersetzen: Mit den „sozialen Verwerfungen“ sind nur die Deutschen gemeint, die davon betroffen sein könnten, daß vermehrt Konkurrenz auf den Arbeitsmarkt tritt. Es wird nicht darüber nachgedacht, ob denen, für die das wirklich gilt, auch auf anderem und weniger schädlichem Wege geholfen werden könnte. Stattdessen soll der Mindestlohn ganz gezielt gegen diejenigen armen Einwanderer eingesetzt werden, deren Arbeit damit in Deutschland effektiv verboten wird. Richtig, auch für diese werden “soziale Verwerfungen“ unterbunden, aber nur deshalb, weil man ihnen die „soziale Verwerfung“ durch bessere Löhne verbietet und sie unverworfen arm läßt.

Von daher am heutigen Tag der Arbeit die Frage an die Gewerkschaften und alle Vertreter eines Mindestlohnes: Sollte man bei aller zur Schau getragenen Ausländerfreundlichkeit nicht auch konsequent sein und sich anständig Menschen gegenüber verhalten, die das Schicksal haben, ärmer als arme Deutsche zu sein, und sich aus ihrer Armut emporarbeiten möchten? Oder geht es hier im Sinne der Schöpfer des gesetzlichen Feiertags doch nur um die Deutschen?

Ich für meinen Teil stülpe mir hingegen eine rote Mülltüte über, blase in meine Trillerpfeife und rufe nur: Hoch die internationale Solidarität!

Gehen offene Grenzen weit genug?

„Es sollte überhaupt keine Grenzen geben.“ Das ist eine Forderung, der man sich dem allgemeinen Sinne nach anschließen kann. Doch was soll sie konkret bedeuten?

Eine Grenze ist allgemein etwas, das zwei verschiedene Gebiete voneinander trennt. So ist etwa der Äquator die Grenze zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre. Der etwas weniger fest definierte „Weißwurstäquator“ trennt hingegen Süd- von Norddeutschland und wahlweise Bayern oder sogar nur Altbayern vom Rest der Welt. Die Benrather und die Speyerer Linie sind die Grenzen, bis zu denen die Zweite Lautverschiebung im deutschen Sprachraum vorgedrungen ist.

Offensichtlich kann man manche dieser Grenzen gar nicht abschaffen, etwa den Äquator, andere nur mit absurden Annahmen, etwa wenn man unsere weißwurstessenden Mitbürger zwangsweise nach Schleswig-Holstein umsiedeln würde und die dortigen Bewohner nach Grönland. Nein, das ist natürlich alles mit der obigen Forderung nicht gemeint. Was dann?

Die einzig sinnige Interpretation des Begriffs ist hier die als „Staatsgrenze“. Eine solche beschreibt, bis wohin sich der Anspruch eines Staates erstreckt, souverän über die dort Wohnenden und ihr Eigentum zu gebieten. Da die Welt im Wesentlichen unter den diversen Staaten aufgeteilt ist, stellt die Grenze des einen Staates fast immer auch die eines anderen dar. Es gibt dabei ein paar Ausnahmen, etwa auf hoher See. Und noch vertrackter sind Fälle, wo sich benachbarte Staaten über den Verlauf einer Grenze nicht einig werden können. Ein skurriles historisches Beispiel wäre hier etwa Neutral-Moresnet. Aber im Großen und Ganzen stimmt die Aussage schon.

Kann man diese Grenzen abschaffen? Solange die Staaten ihre alleinige Oberhoheit über ein Territorium beanspruchen und de facto auch ausüben, dann geht das einfach nicht. Denkbar wäre natürlich, daß Staaten sich ihre Souveränität teilen. Sie könnten sie in gewissen Bereichen an andere Staaten abtreten. Etwa war dies lange Zeit der Fall für die Bundesrepublik Deutschland, der gegenüber die westlichen Allierten gewisse Vorrechte beanspruchten. Aber nur in manchen verqueren Vorstellungen war deshalb die Bundesrepublik buchstäblich ein Teil der USA, Großbritanniens oder Frankreichs. De facto hatte ihr Staat schon recht früh wieder die fast vollständige Souveränität über das von ihm beanspruchte Staatsgebiet.

Denkbar und aus meiner Sicht sogar sehr wünschenswert wäre es auch, daß man innerhalb Europas rechtliche Ordnungen der Staaten von den Territorien abkoppelt. In gewissen Bereichen ist das heute schon der Fall. Eine Firma kann mehr formal ihren Firmensitz in ein anderes Land verlegen und sich so dem Recht eines anderen Staates unterstellen, ohne ansonsten ihren Betrieb wesentlich umzustellen. Hierdurch entsteht eine gewisse Konkurrenz der Staaten, auch wenn diese eher darauf erpicht sind, eine solche durch ein Kartell zu unterbinden. Man könnte weiterdenken und auch den Bürgern das Recht einräumen, sich dem Rechtssystem eines anderen Staates zu unterstellen, vielleicht auch nur in gewissen Bereichen, und das durchaus auch unabhängig vom Standort, sodaß ein Umzug nicht notwendig wäre.

Um die Idee begreiflicher zu machen, ein Beispiel: In der Grenzregion zu den Niederlande sticht es einem ins Auge, daß der niederländische Staat im Baurecht weniger lästige Anforderungen als der deutsche stellt. Häuser in den Niederlanden lassen sich billiger bauen als in Deutschland, ohne daß es deshalb zu irgendwelchen nennenswerten Problemen käme. Der deutsche Staat könnte hier seinen Bürgern das Recht einräumen, ihre Häuser unter niederländischem Baurecht zu errichten. Der niederländische Staat würde sich dann um die Genehmigungsverfahren kümmern, eventuell sogar entsprechende Einrichtungen auf deutschem Gebiet aufbauen.

Es gäbe vermutlich ein paar „Schnittstellen“, die geregelt werden müßten zwischen Deutschland und den Niederlanden. Wenn Sie das niederländische Baurecht verletzen, käme dann das deutsche oder das niederländische Ordnungsamt bei Ihnen vorbei? Und der niederländische Staat würde das wohl auch nicht allein zur Gefälligkeit der Deutschen tun. Hier müßten entsprechende Steuereinnahmen für die Leistung abgetreten werden oder der deutsche Kunde hätte unmittelbar für die Leistung zu bezahlen. Nicht nur das könnte im Sinne der niederländischen Steuerzahler sein, auch daß Kosten über Skaleneffekte sinken. Letztlich könnte es dazu kommen, daß früher oder später weite Teile Deutschlands dem Baurecht nach zu den Niederlanden gehören würden. Auch wenn solche überlappenden Rechtssysteme heute ungewöhnlich erscheinen, war das nicht immer so. Im Mittelalter gab es nebeneinander eine Vielzahl von ihnen, etwa die Lex Mercatoria für den Handelsbereich, das Kirchenrecht für innerkirchliche Anlegenheiten, usw.

Würden aber selbst dann die Grenzen wegfallen? Denkbar wäre, daß Grenzen so unklar würden, daß man sich einem Zustand nähert, wo sie kaum noch zuzuordnen wären; sie würden entbündelt, sodaß sich je nach Bereich unterschiedliche Territorien ergeben, die wesentlich unregelmäßiger und variabler verlaufen würden, als wenn man eine Linie im Sand zieht. Solange Staaten aber noch eine Oberhoheit hätten, würde es weiterhin Grenzen zwischen ihnen geben. Das eine impliziert das andere. Insofern lassen sich Grenzen zwischen Staaten per se nicht abschaffen, sie lassen sich höchstens verschieben. Gewisse von ihnen könnten sogar verschwinden, weil die betreffenden Staaten aufhören oder ihren Anspruch aufgeben. So könnte es beispielsweise im Zuge der europäischen Einigung zu eine Zentralstaat kommen, der die Souveränität in den meisten Bereichen beansprucht, sodaß die heutigen Einzelstaaten mehr zu Gliederungen des Gesamtstaates werden würden, wie etwa die Bundesländer in Deutschland, die ja auch weiterhin Grenzen haben, welche in einem untergeordneten Umfang noch Unterschiede zwischen Rechtsordnungen bedeuten.

Mit anderen Worten: Solange es Staaten gibt, die Ansprüche auf ein gewisses Gebiet erheben, wird es auch Staatsgrenzen geben. Die einzige Alternative wäre hier ein zentral geführter und einheitlicher Weltstaat, was wohl auf absehbare Zeit nicht der Fall sein wird, mal ganz davon abgesehen, ob das wirklich eine so erstrebenswerte Sache wäre.

Nun könnte jemand aus einer anarchistischen Richtung versuchen, den Knoten zu durchschlagen und die Grenzen aus der Welt zu schaffen. Ein Einwand könnte etwa sein, daß Staaten ihre Souveränität zu unrecht beanspruchen. Doch für das obige Argument ist es gar nicht notwendig, die Legitimität eines solchen Anspruchs zu begründen; es genügt völlig, sich darauf zurückzuziehen, daß Staaten de facto eine solche Oberhoheit haben. Das kann auch ein Anarchist wohl nicht bestreiten, sonst bräuchte er keiner zu sein, weil er den gegenwärtigen Zustand bereits für staatenlos hält. Und insofern Staaten de facto, wenn auch vielleicht dann illegitimerweise Souveränität über Territorien beanspruchen, definiert das automatisch auch Grenzen, bis wohin sich dieser Anspruch erstreckt und wo er an den Anspruch eines anderen Staates stößt.

Und wäre es unter anarchistischen Bedingungen denn wirklich anders? Nimmt man Richtungen des Anarchismus aus, die jegliche Ordnung verwerfen, dann wird es doch genauso Einrichtungen geben, die heutigen Rechtsordnungen entsprechen, die auf einem Gebiet Vorrang gegenüber anderen beanspruchen. Ein Anarchosyndikalist würde sich das wohl so vorstellen, daß die Arbeiter die Fabriken übernehmen. Sie würden diese auf irgendeine als richtig empfundene Weise verwalten und sich mit anderen föderieren. Im Gegensatz zu Staaten ginge dies in irgendeinem Sinne auf einer freiwilligen Basis vor sich, weshalb es als legitim erschiene. Aber das ist unerheblich, weil de facto ja doch genauso ein Bereich abgegrenzt würde, für den Bestimmungen gelten. Und „abgrenzen“ bedeutet hier wieder: eine Grenze zu anderen Bereichen definieren. Im Gegenteil: es würde in einer solchen anarchistischen Gesellschaft sogar vermutlich noch viel mehr Grenzen geben, solange die Föderationen nicht die Größe heutiger Staaten erreichen. Formal wären das natürlich keine „Staatsgrenzen“ mehr, aber doch solche, die ihnen in ihrer Bedeutung gleichkämen.

Ganz ähnlich liegt es auch, wenn man den Fall aus einer anarchokapitalistischen Perspektive entwickelt. Hier stünden am Anfang nicht „selbstverwaltete Fabriken“, sondern einzelne Eigentümer, in erster Linie von Grund und Boden, die sich dann freiwillig zusammenschließen. Auch in diesem Fall würden Grenzen definiert, für welches Gebiet gewisse rechtliche Prinzipien gelten. Man mag das für legitim im Vergleich zu Staaten halten; an der Feststellung ändert es aber nichts, daß es sich auch um Grenzen handelte, die denen eines Staates abgesehen von der Frage der Legitimität gleichkämen. Und es ergibt sich wieder dieselbe Folgerung, daß es wohl viel mehr Grenzen als heutzutage geben würde. Bei einer Richtung im Sinne Hans-Hermann Hoppes scheint genau das sogar das angestrebte Ziel zu sein, nämlich an die Stelle von Staaten eine Vielzahl von konservativen Kommunen zu setzen.

Folgt man eher David Friedman oder, soweit er sich festlegt, Michael Huemer, so wäre das nicht unbedingt das zu erwartende Ergebnis einer anarchokapitalistischen Gesellschaft. Vielmehr würden aus dieser Sicht nicht mehr unbedingt territorial gebundene Unternehmen die Staatsfunktionen übernehmen. Unterschiedliche Bereiche könnten dabei auch von unterschiedlichen Anbietern übernommen werden. Wie es zu einem solchen System kommen würde, wird weniger ausgeführt. Michael Huemer meint etwa, daß es sich parallel zu bestehenden Staaten als Ergänzung entwickeln könnte und dann die Staaten außer Gebrauch fallen. Eine andere Variante wäre, ausgehend vom Beispiel des niederländischen Baurechts den beschriebenen Weg weiterzugehen: Die Funktionen der Staaten würden entbündelt und zu Anbietern weren, die auf einem Markt um die Konsumenten werben. Ganz gleich, wie man sich den Übergang vorstellt, könnte es unter solchen Vorzeichen zu einer Situation kommen, daß die impliziert definierten Grenzen so durcheinandergehen, daß sie kaum noch zuzuordnen wären. Und sie würden dann nicht mehr Gebieten entsprechen, an deren Grenze man jemanden aufhalten kann.

Um es zusammenzufassen: Grenzen im Sinne von Staatsgrenzen, dem Gehalt nach und nicht formal, weil sie unbedingt zu Staaten gehören, lassen sich eigentlich fast gar nicht abschaffen. Nur wenn es in einem Weltstaat ein uniformes Rechtssystem gäbe oder in einer gewissen anarchokapitalistischen Gesellschaft sehr viele, die bunt durcheinandergehen, könnte es überhaupt etwas geben, das „keinen Grenzen“ nahekäme. Bejaht man die Legitimität von Staaten, dann bleibt nur der Weltstaat. Verneint man sie, dann folgt noch nicht einmal bei allen anarchistischen Konzeptionen, daß Grenzen verschwinden würden. Je nachdem würden sie sich sogar inflationär vermehren.

Was hat das alles mit offenen Grenzen zu tun?

Eine Kritik, die eine Position für offene Grenzen, und das verstanden als „Staatsgrenzen“, von der Seite angeht, daß sie nicht weitreichend genug sei, weil alle Grenzen abgeschafft gehören, ist entweder nicht durchdacht oder setzt eine extreme Veränderung der heutigen Welt voraus. Hingegen greifen offene Grenzen den Teil an, der sich durchaus auch ohne solche Voraussetzungen verändern läßt: nämlich daß viele Staatsgrenzen heute zumeist weitgehend geschlossen sind. Der relevante Punkt ist eben nicht, daß es Grenzen gibt, sondern daß sie geschlossen gehalten werden. Grenzen, für die das nicht gilt, sind zwar nicht so belanglos wie der Äquator, der Weißwurstäquator oder die Benrather und Speyerer Linie, aber wären es etwa so wie die Grenze zwischen Bayern und Hessen oder auch die zwischen Deutschland und den Niederlanden. Das wäre ein großer Fortschritt gegenüber dem heutigen Zustand. Und deshalb sollte man sich meines Erachtens bei der Kritik auf die Bestimmung „offen“ und nicht auf die „Grenzen“ konzentrieren.

Offene Grenzen und das Recht auf Asyl

Rothkaeppchen

Im folgenden soll es darum gehen, zwei Konzepte miteinander zu vergleichen, die zwar in denselben Zusammenhang gehören, aber doch nicht zusammenfallen. In der Debatte werden sie allerdings oft vermischt. Daß das nicht immer vorteilhaft ist, soll schließlich aufgezeigt werden.

„Offene Grenzen“ stehen für einen Zustand, bei dem die Ein- und Auswanderung aus einem Land im Zweifelsfall frei ist. Jeder darf dorthin reisen, sich niederlassen oder eine Arbeit aufnehmen; jeder darf das Land verlassen. Zulässig könnten dabei allerdings bestimmte Beschränkungen der Bewegungsfreiheit sein, die für In- und Ausländer gleichermaßen gelten, etwa um einen Verdächtigen festzusetzen oder einen Verurteilten einzusperren. Ob er dabei in die Obhut des betreffenden Staates kommt oder eines anderen, sollte erst einmal keinen Unterschied machen. Eine Abschiebung ist von daher unter engen Bedingungen auch bei offenen Grenzen denkbar.

Besteht etwa ein entsprechendes Abkommen und liegen gute Gründe vor, so kann etwa ein flüchtiger Verbrecher einem anderen Staat überstellt werden, genauso wie zwischen verschiedenen Gliederungen eines Staates, etwa den deutschen Bundesländern. Beschränkungen kann es dabei natürlich geben, weil der eine Staat die Gründe des anderen Staates nicht anerkennt, beispielsweise weil das „Verbrechen“ im Inland keines ist oder im anderen Land Folter oder eine wesentlich härtere Strafe drohen. Ob ein Staat in solchen Fällen niemals ausliefert, nur unter bestimmten Umständen oder sogar immer auf Anfrage eines anderen Staates, darüber folgt aus dem Konzept der „offenen Grenzen“ zunächst einmal nichts.

Hier setzt ein Recht auf Asyl an, das unter bestimmten Umständen jemandem Schutz gewährt, zumeist bei Verfolgung aus politischen und diesen ähnlichen Gründen. Jemand darf nun nicht mehr an einen anderen Staat, jedenfalls nicht den, vor dem ihm Schutz geboten wird, ausgeliefert werden. Zudem könnte dem Asylanten auch Schutz gewährt werden vor Übergriffen, etwa wenn Häscher hinter ihm hergeschickt würden. Vorläufer eines Asylrechtes lassen sich dabei bis in das Altertum zurückverfolgen. So boten verschiedene Tempel in Griechenland Sklaven Schutz vor dem Zugriff durch Sklavenhalter, die sie mißhandelten. Später gab es im Mittelalter die Einrichtung, daß sich Verfolgte — durchaus auch jene, die ein regelrechtes Verbrechen begangen hatten — in eine Kirche flüchten durften. Allerdings war der Schutz dann meist nur vorübergehend: der Beschützte mußte sich nach einer Frist entscheiden, ob er sich selbst ausliefern oder seine Sünden bekennen und das Land verlassen wollte.

Ein Asylrecht im heutigen Sinne wurde erst später, nämlich erstmals als Artikel 120 der französischen Verfassung von 1793 verbrieft. Viele Staaten übernahmen solche Regelungen über die Zeit. Artikel 16a des Grundgesetzes erklärt ein solches Recht für Deutschland. Und in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948 wurde ein Recht auf Asyl allseits anerkannt.

Das klassische Land, das Verfolgten jeder Couleur Asyl gewährte, war lange die Schweiz. So flüchteten unter dem Sozialistengesetz viele deutsche Sozialdemokraten dorthin. Das Hauptorgan der Partei — „Der Sozialdemokrat“ — wurde aus Zürich heraus veröffentlicht. Und die Schweiz widerstand für ein ganzes Jahrzehnt dem massiven Druck Bismarcks, der durch seine offiziöse Presse Drohungen lancierte, man wolle die Schweiz annektieren. Die Sozialdemokraten wurden dann 1888 immer noch nicht ausgeliefert, sondern konnten unbehelligt hauptsächlich nach Großbritannien weiterziehen, bis das Sozialistengesetz 1890 nicht mehr verlängert wurde.

Dankbar erkannte das August Bebel an:

Nachdem die erste Überraschung bei unseren Gegnern vorüber war, brach in der gegnerischen Presse eine Hetze gegen die Schweiz los, »Kreuzzeitung« und »Reichsbote« voran. Sie verlangten die Ausweisung der Verschwörer aus der Schweiz und rieten zu dem Versuch, einen Hochverratsprozeß zu inszenieren. Aber das Verlangen der »Kreuzzeitung« und ähnlicher Organe, die Schweiz solle das Asylrecht mißachten und politisch mißliebige Personen ausweisen, hatte nur zur Folge, daß der im September tagende Schweizer Juristentag sich sehr entschieden für das Asylrecht aussprach. Der Grundsatz der Nichtauslieferung politischer Verbrecher sei unbeschränkt aufrechtzuerhalten. Die Schweiz solle in der Asylgewährung weitherzige Grundsätze betätigen, aber Spione, Agents provocateurs und ähnliches Gesindel mit Grund wegweisen. Ausweisung dürfe niemals einem fremden Staat zu Gefallen verhängt werden.

Wie man aus dem Beispiel der Schweiz im 19. Jahrhundert ersieht, kann ein Asylrecht auch bei offenen Grenzen gelten, die es im Wesentlichen damals gab. Es geht dabei nicht so sehr darum, daß jemand in das Land gelangen und dort bleiben kann, sondern darum, daß er nicht an einen anderen Staat ausgeliefert werden darf. Entsprechend ist ein Recht auf Asyl grundsätzlich auch unter mehr oder minder geschlossenen Grenzen denkbar. Natürlich gibt es eine gewisse Spannung. Etwa müßte ein Asylbewerber gleich an der Grenze sein Recht geltend machen können, wenn er dies nicht schon aus dem Ausland vermag. Da dies für Deutschland heutzutage nur möglich ist, wenn er auf dem Luftwege einreist oder vielleicht auf dem Seewege, weil es fast keine Grenzposten an den Landgrenzen mehr gibt, müßte er je nachdem zunächst einmal illegal einreisen, um dann erst Asyl zu beantragen.

Unter offenen Grenzen wäre ein Recht auf Asyl ein Privileg für gewisse Einwanderer. Sie könnten nicht ausgeliefert werden und hätten auch einen Anspruch auf Schutz vor Übergriffen aus dem Ausland. Zudem könnten sie ein Anrecht auf besondere Leistungen haben, wie etwa auf eine medizinische und psychologische Versorgung sowie Unterstützung finanzieller oder sonstiger Art, die anderen Einwanderern nicht zustehen würden.

Wie bis hierhin auseinandergesetzt wurde, sind also offene Grenzen und ein Recht auf Asyl zwei zwar miteinander einhergehende, aber doch unterschiedliche Konzepte. Ein Recht auf Asyl könnte es grundsätzlich auch unter weitgehend geschlossenen Grenzen geben. Umgekehrt könnte man sich genauso vorstellen, daß es offene Grenzen ohne ein Recht auf Asyl gibt. In der Debatte verschwimmen allerdings die beiden Konzepte oft. Hierfür gibt es mehrere Gründe:

  • Asyl als typische Form der Einwanderung. Aktuell sind die Grenzen für Einwanderer von außerhalb Europas weitgehend geschlossen, auch wenn die offenen Grenzen innerhalb Europas vielleicht einen anderen Eindruck vermitteln könnten. Eine und vielleicht die wesentliche Ausnahme ist dabei die Einwanderung unter Anrufung des Asylrechts. Es gibt zwar noch andere Wege, wie etwa eine Einwanderung als Kontingentflüchtling oder als Aussiedler, aber Einwanderung von außerhalb Europas scheint mit Asyl im Wesentlichen zusammenzufallen. Gäbe es andere Möglichkeiten für Einwanderung, so würde der Weg über das Asylrecht wohl eher in den Hintergrund treten.
  • Was man sieht und was man nicht sieht. Das Schicksal von Asylbewerbern und Asylanten ist relativ sichtbar. Abschiebungen führen drastisch vor Augen, was Zwang in diesem Zusammenhang bedeutet. Insofern hat man den Mißstand gewissermaßen „unter der Nase“. Hier greift eine Verfügbarkeitsheuristik, die das Naheliegende als das Typische ansetzt. Die Empörung über das, was man sieht, ist ganz zurecht groß. Was man allerdings nicht sieht, sind die Menschen, die es gar nicht einmal bis zu diesem Punkt schaffen oder die — wie gewollt abgeschreckt — es gar nicht erst versuchen.
  • Asyl als Weg des geringsten politischen Widerstands. Daß ein politisch oder ähnlich Verfolgter Schutz gewährt bekommt, ist relativ wenig umstritten, weil der Asylant sich gewissermaßen einen Anspruch auf Hilfe erworben hat. Selbst wenn ist das Asylrecht als Bestandteil des Grundgesetzes nur schwer aus der Welt zu schaffen. Und so ergibt sich eine Neigung, eine weitergehende Öffnung der Grenzen durch Umdeutung des Asylrechts herbeizuführen, etwa indem man auf den relativ vagen Begriff von “Flüchtlingen” rekurriert und auch andere Gründe konstruiert, die einen analogen Anspruch begründen sollen. Bei offenen Grenzen würde ein Recht zur Einwanderung hingegen jedem zustehen (bis auf gewisse wohlbegründete Ausnahmen), ohne daß ein besonderer Anspruch darauf begründet werden müßte.
  • Asylbewerber als dubiose Einwanderer. Auch für Gegner von Einwanderung kommt eine Gleichsetzung von offenen Grenzen und Asylrecht gelegen. Wenn unter geschlossenen Grenzen das Asylrecht fast der einzige Weg für Einwanderung von außerhalb Europas ist, darf man sich gar nicht wundern, daß auch viele kommen, die im strikten Sinne des Asylrechts keinen Anspruch haben. Man mag darüber diskutieren, ob hier Verfolgung je nachdem zu eng ausgelegt wird; aber selbst wenn ist es wohl richtig, daß die meisten Anträge auf Asyl unbegründet sind. Von daher ergibt sich ein Bild von Einwanderern als Betrüger, weil sie unwahre Behauptungen vorschützen.

Schlagworte wie „Asylmißbrauch“, „Scheinasylanten“ oder „Asylbetrüger“ sind zwar polemisch und auch herabsetzend gemeint, aber im engen legalen Sinne vielleicht nicht ganz falsch. Das Problem liegt nur woanders, weil Menschen durch die Gesetze ihr Recht im Sinne von Gerechtigkeit verwehrt wird. Man kann in einem solchen Falle durchaus argumentieren, daß es legitim ist, illegitime Gesetze zu umgehen, wie es etwa Ilya Somin unlängst getan hat. Doch der erste Eindruck ist natürlich, daß hier mit den Gesetzen auch das Recht mißachtet wird. Und dann ist ein solches Argument zur Legitimität von Illegalität in einem rechtspositivistisch geprägten Land wie Deutschland nicht unbedingt eingängig. In eine ungünstige Lage geraten dabei auch diejenigen, die das Asylrecht aufdehnen wollen. Entweder verstricken sie sich in unhaltbare Definitionen des Begriffs der „Verfolgung“ oder sie lassen allzu sehr durchblicken, daß das Asylrecht nur ein Mittel zum Zweck sein soll. Diese inhärente Unehrlichkeit wird von ihren Gegner dann genüßlich auseinandergenommen.

Aus der Sicht einer Position für offene Grenzen ist es ja nicht verkehrt, daß vielleicht auch mehr Menschen im Zuge des Asylrechts einwandern können, als das Recht an und für sich deckt. Aber man muß schon fragen, ob es wirklich zielführend ist, in dieser Richtung vorwärtszudrängen. Der nicht ganz falsche Eindruck, daß viele der eingereichten Asylanträge grundlos waren, führte in den 1990er Jahren zu einem Rückstoß gegen das Asylrecht insgesamt. Im Deutschen nennt sich eine solche Beschränkung dann eine „Verschärfung“, auch wenn eine Verschärfung eines Rechtes dem Wortsinne nach genau das Gegenteil sein sollte. Das wirkliche Problem nicht anzugehen und stattdessen das Asylrecht zu einem Recht auf begrenzte Einwanderung umzufunktionieren, wirkte hier letztlich eher kontraproduktiv.

Was folgt nun, wenigstens nach meiner Ansicht, für den Vertreter offener Grenzen?

Zum einen sollte man nicht an der Verwirrung der Begriffe mitarbeiten, nur weil man sich auf kurze Sicht davon eine gewisse Öffnung der Grenzen verspricht. Es ist sicherlich wünschenswert, daß das Asylrecht erhalten bleibt oder sogar wieder in den alten Zustand vor dem „Asylkompromiß“ von 1993 zurückzuversetzt wird. Die Auslegung sollte möglichst weit sein, die Bewerber nicht weggepfercht und ihnen nicht auf unwürdige Weise das Recht abgesprochen werden, mit ihrer Arbeit selbst für sich zu sorgen. Auch abgelehnte Asylbewerber sollten bleiben dürfen und Abschiebungen unterbleiben. Hier muß man sich gar nicht gegen die oft erhobenen Forderungen stellen, im Gegenteil.

Aber man sollte nicht versuchen, all diese Dinge durch eine Überbürdung des Konzeptes Asyl zu bewerkstelligen. Stattdessen muß einfach die grundsätzlich andere Frage aufs Tapet kommen, wie geschlossen oder offen die Grenzen allgemein sein sollten. Selbst mit allem Aufdehnen des Asylrechts kommt man hier nämlich nicht wirklich weiter. Und schlimmer noch: man bringt sich noch je nachdem in eine argumentativ sehr ungünstige Lage, wenn man nicht offen das ausspricht, was man eigentlich vertritt.

In diesem Sinne: Nicht offene Grenzen durch das Asylrecht, sondern offene Grenzen und das Recht auf Asyl.

Anmerkungen

  • Der knappe Ausdruck „Asylant“ ist aus dem Sprachgebrauch zurückgezogen worden, weil Begriffe auf „-ant“ angeblich automatisch negativ besetzt seien. Ich verwende ihn ohne jede beabsichtigte Wertung für diejenigen, die Asyl gewährt bekommen haben, weil ich diese Behauptung einfach nicht nachvollziehen kann. Beim ebenso neutralen Begriff „Praktikant“ ist mir eine solche Sensibilität noch nie begegnet.
  • Das Titelbild ist dem Satireblatt “Berliner Wespen” entnommen, die damit ihren Unmut über die Drohungen gegen die Schweiz Ausdruck verliehen. Es wurde am 20. April 1881 veröffentlicht und zeigt das Rotkäppchen “Schweiz” mit dem Korb “Asylrecht” in der Hand, das den Wölfen mit “Bangemachen gilt nicht!” trotzt. Auch wenn die Wölfe nicht näher bezeichnet sind, stehen sie wohl für Deutschland, eventuell auch für Rußland, das nach dem Attentat auf Zar Alexander II. am 13. März 1881 europaweit die Auslieferung von allen fordert, die es für Terroristen hält. Bismarck biedert sich mit seiner Bedrängung der Schweiz nicht zuletzt auch beim neuen Zaren Alexander III. an. Mehr zum Hintergrund findet sich in meinem Artikel “Wird die Schweiz der 40. Staat der USA?” auf dem Blog “Freisinnige Zeitung”.

Der Führer der Nationalliberalen gegen Abschiebungen

Am 30. September 1867 kommt das vom Bundeskanzler Otto von Bismarck eingebrachte Gesetz über das Paßwesen im Reichstag des Norddeutschen Bundes zur Debatte, das Pässe und Visa sowohl für Inländer als auch Ausländer abgeschaffen soll. Das Gesetz ist wenig umstritten. So wird die Beseitigung der Paßpflicht für Ausländer ohne Debatte sofort angenommen.

Allerdings geht das Gesetz den Parteien der Linken nicht weit genug. So bringt der Abgeordnete der Deutschen Fortschrittspartei Julius von Kirchmann ein Amendement (Verbesserung des Gesetzes) ein, das die Praxis willkürlicher Ausweisungen von Bürgern des Norddeutschen Bundes durch die Polizei, wie sie in Preußen nicht selten vorkommen, beenden soll (Nr. 35 der Reichstagsdrucksachen):

Der Reichstag wolle beschließen:

im § 10 hinter Alinea 4 nachstehendes Alinea 5 hinzuzufügen:

Polizeiliche Ausweisungen und Untersagungen des Aufenthalts an irgend einem Orte des Norddeutschen Bundes sind gegen Angehörige desselben nur zulässig auf Grund gerichtlicher Erkenntnisse, welche dazu ermächtigen, oder, wenn der Betreffende die öffentliche Unterstützung in Anspruch nimmt, nach näherer Bestimmung der Gesetze über die Armenpflege.

Alle dem entgegenstehenden Privilegien einzelner Ortschaften werden hiermit aufgehoben.

von Kirchmann.

Zu beachten ist dabei, daß es zu diesem Zeitpunkt nur um die Abschaffung von Pässen und Visa geht. Die Freizügigkeit wird erst in einem zweiten Schritt durchgesetzt, welche Beschränkungen aufgrund der „öffentlichen Unterstützung“ ebenfalls abschafft und auch von der Deutschen Fortschrittspartei unterstützt wird. Die Einschränkung im Antrag dient nur dazu, die beiden Fragen nicht an dieser Stelle zu verquicken.

Der Abgeordnete der demokratischen und großdeutschen Sächsischen Volkspartei (und spätere Führer der Sozialdemokraten) Wilhelm Liebknecht möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und auch die Ausweisung von Ausländern mit denselben Ausnahmen unmöglich machen. Sein Amendement lautet (Nr. 39 der Reichstagsdrucksachen):

Der Reichstag wolle beschließen:

im Abänderungs-Vorschlage des Abgeordneten von Kirchmann (Nr. 35) die Worte:

“gegen Angehörige desselben”

(in der 3. Zeile des Vorschlags) zu streichen.

Liebknecht.

Es kommt nun zu einer Debatte, bei der von Kirchmann und Liebknecht ihre Amendements begründen. Nach ihnen erhebt sich der Führer der Nationalliberalen Eduard Lasker und befürwortet sowohl das Amendement Kirchmann als auch das Unter-Amendement Liebknecht mit diesen Worten:

Abgeordneter Lasker: Meine Herren! Ich werde Ihnen für Ihre Freundlichkeit mit recht kurzen Worten danken. Ich will sowohl das Amendement des Abgeordneten v. Kirchmann wie auch das Unter-Amendement, welches der Abgeordnete Liebknecht dazu gestellt hat, befürworten, und sehe mich noch ganz besonders veranlaßt, das letztere zu befürworten, weil der Herr Abgeordnete Liebknecht am Schlusse seiner Rede auf ein Gebiet sich verirrt hat, das mit dem gegenwärtigen Gesetz nicht im Zusammenhange steht, und das gegen sein Unter-Amendement vielleicht ein gewisses Vorurtheil hervorgerufen hat. Meine Herren, nach den Preußischen Gesetzen oder vielmehr nach den Preußischen Gewohnheiten — denn ein Ausweisungsrecht besteht in Preußen überall nicht — ist die Praxis der polizeilichen Ausweisungen an die Aufenthalts-Karten geknüpft worden. In einer Instruction des Ministers des Innern — ich glaube, sie rührt aus dem Jahre 1851 her — deducirt dieser: Weil die Fremden Aufenthalts-Karten nehmen müssen, so folge daraus, die Polizei könne die Aufenthalts-Karten verweigern, folglich auch die Fremden ausweisen, was gleichbedeutend sei mit der Verweigerung der Aufentha[l]ts-Karten. Diejenigen also, welche meinen, daß die Materie dem gegenwärtigen Paßgesetze fremd sei, sind nicht richtiger Ansicht. An der Stelle, wo die Gewährung der Aufenthalts-Karten aufgehoben wird, paßt es auch, die falsche Praxis der Polizei gesetzlich aufzuheben.

Das Amendement Liebknecht rechtfertigt sich meiner Ansicht nach ganz von selbst, ohne daß man gerade großdeutsche Gelüste damit in Verbindung zu bringen braucht; es rechtfertigt sich dadurch, weil es eine Art Barbarei ist, in dem gastlichen Rechte des Aufenthalts einen Unterschied zu machen zwischen Ausländern und Einheimischen. Nicht nur jeder Deutsche, sondern jeder Mensch hat das Recht, nicht wie ein Hund weggejagt zu werden. Da nun die gegenwärtige Regierung in Preußen, wie sie durch ihre Vertreter mehrfach hervorgehoben hat, daß sie die polizeiliche Praxis nicht liebt, der Mißbrauch der Ausweisungen aber, der in Preußen zu Tausenden gehandhabt worden ist, nur auf polizeilicher Praxis beruht, so dürfen wir auf ihre Zustimmung rechnen. Benutzen wir daher die erste Gelegenheit, den Mißbrauch abzuschaffen. Ich empfehle Ihnen dringend das Amendement Kirchmann nebst dem Unter-Amendement Liebknecht.

Die Nationalliberalen folgen aber ihrem Führer hierin nicht. Sowohl das Amendement Kirchmann als auch das Amendement Liebknecht werden vom Reichstag abgelehnt.

Wieviele würden bei offenen Grenzen kommen? – Einleitung

Sowohl für Befürworter als auch Gegner von offenen Grenzen ist von Interesse, was denn bei offenen Grenzen passieren würde. Das Mindeste wäre hier zu wissen, wieviele Menschen denn überhaupt wandern würden. Eine Vorhersage ist dabei allerdings alles andere als einfach, weil diverse Einflußgrößen in Betracht zu ziehen sind, die zudem noch miteinander in Wechselwirkung stehen können.

Etwa gibt es unterschiedliche Gründe, die Menschen zur Auswanderung antreiben (Push-Faktoren) oder eine Einwanderung interessant machen (Pull-Faktoren). Zur ersten Gruppe gehören beispielsweise Vertreibungen, Kriege und Bürgerkriege oder Regime, die die Bevölkerung unterdrücken. Motivationen für Einwanderung können absolute oder relative Unterschiede in der Entlohnung und Unterstützung, Möglichkeiten zur Weiterbildung, kulturelle Affinität und familiäre Bindungen sein oder einfach Abenteuerlust und Spaß an Veränderung. Umgekehrt sprechen je nachdem sprachliche oder kulturelle Gründe auch gegen eine Einwanderung, während viele Landsleute vor Ort diese erleichtern. Auswanderung wirkt wiederum auf die Herkunftsländer zurück, etwa durch Überweisungen in das Herkunftsland und technologische Transfers, was die weitere Auswanderung beeinflussen kann. Und dann gibt es unterschiedliche Fälle, ob ein einzelnes Land oder eine Gruppe von Ländern ihre Grenzen öffnet oder gemeinsam alle Länder weltweit, ob die Grenzen auf einmal aufgehen oder nur allmählich.

Da bereits bei den einzelnen Einflüssen große Unklarheit herrscht und noch mehr bei ihrem Zusammenwirken, kann man keine exakten Schätzungen erwarten mit Einwandererzahlen bis auf die Nachkommastellen. Hierzu müßte man ja zusätzlich noch fast alles über eine Welt wissen, die auch in anderen Hinsichten anders wäre als die heutige. Aber immerhin kann man versuchen, eine grobe Größenordnung für die zu erwartenden Wanderungsströme herzuleiten.

Dies soll in einer Serie von Artikeln angegangen werden. Vieles dabei mag verbesserungsfähig sein, aber irgendwo muß man ja anfangen. Der Plan ist hierbei der folgende:

Im ersten Artikel sollen zunächst einige allgemeine Überlegungen angestellt werden, warum man mit sehr hohen Zahlen von Wandernden rechnen kann oder aber auch mit eher niedrigen. Als erster Pfosten eines Scheunentors soll dann auf der einen Seite die sicherlich zu hohe Schätzung diskutiert werden, daß alle Bewohner ärmerer Länder, etwa sechs Milliarden Menschen, in die reichen Länder kommen. Auf der anderen Seite steht die zu niedrige Schätzung, daß sich gegenüber dem heutigen Zustand fast nichts ändern würde. Wie bereits angedeutet, sind die beiden Schätzungen von vornherein unplausibel. Es lohnt sich aber dennoch, darüber nachzudenken, warum das so ist.

Im nächsten Artikel soll es darum gehen, sich historische Beispiele anzuschauen. Schließlich gab es, auch wenn viele das vergessen haben, ja schon einmal eine Welt mit fast völlig offenen Grenzen, nämlich im 19. Jahrhundert. Allerdings muß man dabei im Auge behalten, daß sich seitdem einiges verändert hat: Mit Leichtigkeit kann jemand heute per Google Steetview bereits in einem anderen Land herumspazieren und sich über das Internet vielfältige Information beschaffen. Und auch die Kosten für den Transport sind heute wesentlich niedriger als im 19. Jahrhundert. Auf der anderen Seite erfordert eine Einwanderung mittlerweile mehr an Aufwand, etwa für bürokratische Formalitäten wie bei der Eröffnung eines Kontos oder beim Abschluß eines Miet- und Arbeitsvertrags.

Im dritten Artikel der Serie soll deshalb auf aktuelle Beispiele eingegangen werden. In Frage kommen hier Fälle von weitgehend offenen Grenzen, etwa im Schengenraum oder zwischen Indien und Nepal, sowie die Erfahrung mit interner Wanderung insbesondere in großen Ländern wie China oder Indien. Auch nur mäßig offene Grenzen können einen Anhaltspunkt bieten, was bei einer weiteren Öffnung passieren mag. Und dann kann man die Menschen auch direkt fragen, was sie gerne machen wollen, wie es etwa Gallup recht regelmäßig in weltweiten Umfragen tut.

Schließlich sollen dann die Ergebnisse zusammengetragen und gewertet werden, um zu einer Einschätzung der ungefähren Größenordnung zu gelangen, wieviele Menschen unter offenen Grenzen wohl wandern würden.

Keine Pässe, keine Visa – welches Land macht denn sowas?

Ein kleines Ratespiel. Das Land, um das es geht, hat ein Gesetz erlassen. Der erste Paragraph des Gesetzes sichert jedem Bürger zu, daß er weder beim Verlassen noch bei der Wiedereinreise und natürlich erst recht nicht beim Reisen innerhalb des Landes ein Reisepapier braucht.

Da es andere Länder gibt, die ein Reisepapier verlangen, hat jeder mit geringen Auflagen ein Anrecht, ein Reisepapier ausgestellt zu bekommen, wofür aber höchstens ein mäßiger Betrag als Gebühr verlangt werden darf.

Doch es kommt noch verrückter: Im zweiten Paragraphen des Gesetzes wird sogar allen Ausländern — ja, allen! — zugesichert, daß sie weder bei der Einreise, der Ausreise noch beim Aufenthalt im Land ein Reisepapier benötigen. Sie müssen sich nur, wie auch die Bürger, auf amtliches Verlangen hin über ihre Person ausweisen können. Niemand braucht zudem Reisepapiere vorlegen, um ein Visum zu bekommen.

Diese völlige Abschaffung aller Reisepässe und Visa kann nur unter ganz besonderen Umständen und vorübergehend ausgesetzt werden, etwa während eines Krieges oder bei Unruhen.

Welches Land macht denn sowas?

Am 17. September 1867 „beehrt sich“ der Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes Otto von Bismarck, dem Norddeutschen Reichstag ein „Gesetz über das Paßwesen“ zur Annahme „ganz ergebenst vorzulegen.“ Das Gesetz wird in nur wenig veränderter Form mit großer Zustimmung vom Reichstag angenommen.

„Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen“ verfügt das Gesetz dann „[u]rkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Bundes-Insiegel“ am 12. Oktober 1867. In Kraft tritt es per 1. Januar 1868. Mit der Reichsgründung 1871 wird die Geltung des Gesetzes auf ganz Deutschland ausgeweitet.

Das „Gesetz über das Paßwesen“ kommt dabei nicht aus heiterem Himmel. In der „Dresdner Konvention“ vom 21. Oktober 1850 ist bereits die Visumspflicht innerhalb Deutschlands abgeschafft worden. Im Jahr 1859 schließt sich Österreich-Ungarn dem Abkommen an. Allerdings benötigt man zum Reisen noch eine „Paßkarte“.

Am 7. Juli 1865 machen Bayern, Sachsen, Hannover und Württemberg den nächsten Schritt und schaffen Paßpflicht und alle Visa ab — auch für Ausländer. Dem schließen sich bald andere deutsche Staaten an. Der Norddeutsche Bund vollzieht dies dann zwei Jahre später nach. Allerdings ist Deutschland hier eher ein Nachzügler. Die Schweiz und Schweden haben Paßpflicht und Visa schon längst für alle Länder abgeschafft, Frankreich, Belgien und die Niederlande für andere Länder auf Gegenseitigkeit.

Aufschlußreich für den liberalen Geist der Zeit ist die Begründung in den Motiven zum „Gesetz über das Paßwesen“. Diese hält sich nicht lang mit Argumenten auf:

„[N]ach den Ansichten, welche in neuerer Zeit allgemein über diesen, einen großen Theil der Bevölkerung nahe berührenden Gegenstand sich geltend gemacht haben, werden weder die gleichmäßige Regelung des Paßwesens für das ganze Gebiet des Bundes durch ein Bundesgesetz, noch auch diejenigen Grundsätze einer besonderen Rechtfertigung bedürfen, von welchen allein bei dem Erlaß eines solchen Gesetzes ausgegangen werden kann. Es darf die freie Bewegung des unverdächtigen Reisenden nicht durch Maßregeln gehemmt und gestört werden, welche keinen anderen Zweck haben, als den Verdächtigen auf die Spur zu kommen, deren Anzahl gegen die stets wachsende Zahl der Reisenden überhaupt doch immer nur verschwindend klein ist; es mußte namentlich davon ausgegangen werden, daß der Paßzwang, welcher seit der außerordentlichen Vermehrung des Reiseverkehrs ohnehin nicht mehr durchführbar war, auch gesetzlich aufzuheben sei.“

Pässe und Visa seien sowieso überflüssig, so führen die Motive weiter aus:

„Bei der Beurtheilung des Entwurfs im Allgemeinen ist zunächst der Zweck desselben ins Auge zu fassen, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß durch die darin bundesgesetzlich ausgesprochene Aufhebung des Paßzwanges weder die Wirksamkeit der Polizei bei der Verfolgung wirklich gefährlicher Individuen beeinträchtigt, noch auch andere dem Paßwesen verwandte Institute, welche aber einen anderen Zweck verfolgen, beseitigt werden sollten. Der Entwurf bezweckt, den gewöhnlichen Reiseverkehr von den Unbequemlichkeiten und Belästigungen des Paßzwanges zu befreien. Niemand soll verpflichtet sein, bloß aus dem Grunde, weil er seinen gewöhnlichen Wohnort verläßt, sich mit Legitimationspapieren zu versehen und solche auf der Reise den verschiedenen Polizeibehörden zum Visiren vorzulegen.“

Die einzige Ironie des „Gesetzes über das Paßwesen“ ist nur, daß es ausgerechnet von Otto von Bismarck vorgelegt wird, der knapp zwanzig Jahre später daran gehen wird, die Grenzen wieder zu schließen und damit eine Entwicklung einleitet, die zu den späteren Zuständen mit „Unbequemlichkeiten und Belästigungen“ geführt hat.

Deutschland war also schon mal weiter. Und leider marschiert Bayern nicht mehr an der Spitze des Fortschritts. Aber die Geschichte ist ja noch nicht zuende.

Die Lösung der Rastlbinderfrage

Im Vorlauf zu den Reichstagswahlen 1881 formiert sich die sogenannte “Berliner Bewegung”, die versucht, die Deutsche Fortschrittspartei aus ihrer Hochburg Berlin herauszudrängen. Das Hauptmittel dieser Bewegung ist der Antisemitismus. So wird etwa eine “Antisemitenpetition” aufgelegt, in der als ein Punkt gefordert wird, Juden die Einwanderung nach Deutschland zu verwehren. Bislang hatte Deutschland fast völlig offene Grenzen gehabt. Doch das beginnt sich zu ändern.

So entdeckt die offiziöse “Post” im September 1881 eine neue Gruppe, die man zu einer Bedrohung aufbauen und auf der man herumhacken kann: die “Rastlbinder”. Vor allem arme Slowaken wandern durch Europa und versuchen sich, unter anderem in Berlin, durchzuschlagen als fliegende Händler und Handwerker. Nun sollen sie nach Meinung der “Post” ausgewiesen werden.

Dagegen stellt sich das von Julius Stettenheim redigierte Satireblatt “Berliner Wespen”, das seit längerem bereits die Antisemiten verspottet und der Deutschen Fortschrittspartei nahesteht:

Berliner Wespen, 21. September 1881

Zum Schutz der Industrie.

“Ihr armen Slovakenkinder,
Ihr schmutzigen Rastlbinder,
Die Ihr für Logis und Kost
Hausirt hier” — so spricht die “Post!” —

“Ihr schädigt sämmtliche Menschen,
Indem Ihr in vaterländ’schen
Erzeugnissen macht, zugleich
Aussaugend das deutsche Reich.”

“Auch Ihr mit dem Leierkasten
Vermehrt uns’re schweren Lasten ——
Der ganze ausländische Trupp
Muß über die Grenze per Schub!”

Ade denn, Ihr Vagabunden,
Und bis Ihr zum Leben gefunden.
Einen baaren Reptilienfonds,
Packt Euch! Pascholl! Allons!

Berliner Wespen, 28. September 1881

Der Rastlbinder.

Nach Forschungen der “Post”.

Wie der Rastlbinder aussieht. Schon im Aeußern verräth der Slovake die ungeheuren Reichthümer, in deren Besitz er sich durch fortgesetzte ungehinderte Aussaugung unserer deutschen Mitbürger zu setzen verstanden hat. Er ist groß und wohlbeleibt, seine Nase vom Weingenuß geröthet, um seinen Mund spielt das Lächeln des gewohnheitsmäßigen Sybariten, seine Haltung ist dandyhaft. An der Hand, mit der er seine Mausefallen feilbietet, bemerkt man Ringe mit blitzenden Solitärs.

Wovon der Rastlbinder sich ernährt. Hat der Rastlbinder den ganzen Tag über schlechte Geschäfte gemacht, so begnügt er sich mit einem einfachen Souper von sechs bis acht Gängen, welches er in einem bürgerlichen Vorstadtrestaurant einnimmt, und trinkt Moselwein dazu.  Hat er aber eine Blechpfanne verkauft, oder einen Topf geflickt, so verwendet er den Erlös sofort, um sich damit ein lukullisches Mahl bei Hiller oder Dressel zu bereiten, woselbst man allabendlich die Slovaken in langen Reihen prassen und schlemmen sieht.

Wo der Rastlbinder wohnt. Die geradezu fabelhaften Summen, welche die Slovaken für ihre Draht- und Blechwaaren zu erpressen verstehen, setzen sie in den Stand, trotz ihres schwelgerischen Lebens soviel zu erübrigen, daß Jeder von ihnen nach kaum einjährigem Aufenthalt in der Reichshauptstadt Eigenthümer einer Villa im Thiergarten wird, so daß man mit Sicherheit das Prognostikon stellen kann, Berlin W. werde in fünfzig Jahren entweder verrastlbindert oder verdrehorgelt sein.

Wie die Rastlbinderfrage zu lösen ist. Die einzig radicale Lösung ist von den Forschern der “Post” bereits vor einigen Tagen in der polizeilichen Ausweisung der Slovaken gefunden und damit begründet worden, daß es nicht abzusehen sei, warum wir unser Vaterland durch fremde Rastlbinder aussaugen lassen sollen. Erscheint diese Maßregel zu hart, so müßten von Seiten der Behörde mindestens folgende Anordnungen getroffen werden: Es wird den Rastlbindern untersagt, sich ihre schlechten und billigen Waaren von den Käufern mit Gold aufwiegen zu lassen. Es wird ihnen verboten, vier- und mehrspännig auszufahren und Vorreiter zu halten. Slovakische Gelage und Festivitäten dürfen nur im Beisein eines überwachenden Polizei-Lieutenants abgehalten werden. In den Theatern wird den Rastlbindern der Zutritt zum Parket und ersten Rang verwehrt. Durch derartige Einschränkungen könnte man diesen Aussaugern den Aufenthalt in unserm Vaterlande so verleiden, daß sie ihm von selbst in kürzester Frist den Rücken kehren würden. Damit wäre die Rastlbinderfrage gelöst.

[Dies ist eine Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 26. September 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Haben offene Grenzen die Weltgeschichte verändert?

Spielen wir einmal ein alternatives Szenario durch: Angenommen, jegliche Einwanderung von Deutschen nach Amerika wäre von Anfang an unterbunden worden. Grenzschützer hätten dafür eine Menge an Argumenten auf ihrer Seite gehabt: Deutschland war eine Brutstätte für allerlei kollektivistische Ideologien, die der amerikanischen Freiheit feindselig gesonnen waren: rabiater Nationalismus, Antisemitismus, Kommunismus und Nationalsozialismus. Der IQ von deutschstämmigen Amerikanern ist bestenfalls durchschnittlich. Deutsche Einwanderer paßten sich nur langsam an und hielten an der deutschen Sprache fest. Und dann natürlich absonderliche Verhaltensweisen, etwa daß Minderjährige Bier trinken dürfen. Usw. Gehen wir nun ins Jahr 1940 zurück.

Die USA hatten damals eine Bevölkerung von 132 Millionen, Deutschland inklusive Österreich eine von 79 Millionen. Die amerikanische Bevölkerung war also 67% größer als die “Großdeutschlands”.

Heutzutage geben 17% der Amerikaner an, aus Deutschland zu stammen, wobei man sich wohl meist am Namen orientiert, der auch aus Österreich kommen könnte. Da es nur eine geringe Einwanderung aus Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich mit anderen Gruppen gab, sollte der Anteil 1940 eher höher gewesen sein. Nehmen wir also an, daß ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung 1940 deutschstämmig war. Im alternativen Szenario würde die amerikanische Bevölkerung um 33 Millionen kleiner ausfallen, also nur noch 99 Millionen betragen. Fügen wir die 33 Millionen der deutschen Bevölkerung hinzu, so erhält man hingegen 112 Millionen. “Großdeutschland” hätte damit eine um 12% größere Bevölkerung als die USA gehabt. Das entspricht dem Eintritt einer  Großmacht von 66 Millionen in den Krieg auf der Seite der Achsenmächte.

Schlimmer: die drei Oberbefehlhaber der amerikanischen Teilstreitkräfte waren alle deutschstämmig. Natürlich nicht nur, sodaß es sie im alternativen Szenario vermutlich nicht gegeben hätte. Wenn doch, dann wäre General Eisenhower vielleicht eher Generalfeldmarschall Eisenhauer in der deutschen Armee gewesen. Genauso Chester Nimitz, nun als Generaladmiral Nimitz für die Marine, und Carl Andrew Spaatz für die Luftwaffe (als Generalfeldmarschall Karl Andreas Spatz, das zweite ‘a’ nahm er an, um die richtige Aussprache für Amerikaner klarzumachen, was in Deutschland unnötig gewesen wäre). Und mehr als eine Fußnote: William Patrick Hitler, der Halbneffe des Führers, hätte wohl auch kein Purple Heart für seinen Dienst in der amerikanischen Marine erhalten.

Es lohnt nicht, das alternative Szenario weiterzuspinnen und zu behaupten, die Achsenmächte hätten nun den Krieg gewonnen. Aber auch das Gegenteil zu argumentieren, scheint nicht ganz einfach zu sein. In einer Welt mit fest verschlossenen Grenzen für Bürger Deutschlands, Italiens und Japans müßte man auch noch Millionen deutscher Auswanderer und ihre Nachkommen aus dem britischen Weltreich, etwa Kanada, Australien und Neuseeland, zurückschicken. Und dasselbe für den nicht unbeträchtlichen Anteil italienischstämmiger Amerikaner.

Wie gut haben sich denn die grenzschützerischen Vorhersagen in der Wirklichkeit geschlagen? Eine fünfte Kolonne ins Land zu lassen, könnte ja desaströse Konsequenzen haben. Totales Ri-si-ko für die USA?

Nicht wirklich. Vorfälle von Verrat und Illoyalität waren eine verschwindene Ausnahme und die “Weihnachtserklärung der Männer und Frauen deutscher Abstammung” weitaus repräsentativer:

“[W]ir Amerikaner deutscher Abstammung erheben unsere Stimme und verurteilen die Politik Hitlers, kaltblütig die Juden Europas auszurotten, und gegen die barbarischen Taten der Nazis, die gegen unschuldige Völker unter ihrer Herrschaft begangen werden. Diese Greuel … sind besonders für jene wie uns eine Herausforderung, die wir selbst Nachkommen eines Deutschlands sind, das einst in der ersten Reihe der Zivilisation stand … [W]ir verwerfen jeden Gedanken und jede Tat Hitlers und seiner Nazis … [und rufen Deutschland auf,] ein Regime zu stürzen, das die Schande der deutschen Geschichte ist.”

Moral: Man kann auf Einwanderer als Menschen schauen, die vielleicht eine gewisse Loyalität ihrem alten Land und seiner Kultur gegenüber behalten. Wenn diese Kultur durch und durch kollektivistisch ist, wie es für Deutschland 1940 der Fall war, sieht das nicht gut aus. Die Anpassung mag langsam und unvollständig sein.

Doch das heißt, sich die Sache nur aus der begrenzten Perspektive eines einzelnen Landes anzuschauen. Sieht man sie sich auf globalem Niveau an, ist das Ergebnis anders. Sogar unvollständige Anpassung bedeutet, daß mehr Menschen weniger an ihren vorherigen Ansichten hängen, und es einige (und im Fall der deutschstämmigen Amerikaner sogar viele) gibt, auf die der Kollektivismus keinen Zugriff mehr hat. Offene Grenzen unterminieren den Kollektivismus.

Ist man also besorgt um die Freiheit der Welt auf lange Sicht, dann sollte man so viele Menschen wie möglich haben wollen, die nicht in kollektivistischen Gesellschaften festsitzen und durch totalitäre Staaten indoktriniert werden können, und so viele wie möglich, die der Freiheit ausgesetzt sind und eine Chance haben, ihre Meinungen in einer offenen Gesellschaft zu ändern.

Die Welt hat Glück gehabt, daß Freiheit und offene Grenzen für eine lange Zeit zusammengingen.

[Dies ist eine frei übersetzte und überarbeitete Version eines Artikels, der zuerst auf dem Blog Open Borders und dann dem Blog Freisinnige Zeitung erschienen ist.]

Einwanderungsland Preußen

Ab 1885 wurden auf Betreiben des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck im Zuge der “Polenausweisungen” 35.000 österreichisch-ungarische und russische Staatsangehörige, unter ihnen etwa 10.000 Juden, aus Preußen ausgewiesen. Die sogenannten “Überläufer” hatten oft seit Jahrzehnten dort gelebt, je nachdem Einheimische geheiratet (ihre preußischen Frauen verloren bei Heirat die Staatsangehörigkeit) und sich teilweise schon so weit als Preußen gefühlt, daß sie in der Armee gedient und an den Kriegen Preußens teilgenommen hatten, obwohl sie das gar nicht mußten.

Von Protesten nicht nur der Polen, sondern auch des katholischen Zentrums sowie aller Parteien der Linken, der Deutsch-Freisinnigen Partei, der Deutschen Volkspartei und der Sozialdemokraten, ja bisweilen sogar von konservativen Gutsbesitzern, deren Arbeiter abgeschoben wurden, ließ sich Bismarck nicht beirren. Angeblich ging es ihm darum, einer Polonisierung Preußens Einhalt zu gebieten. Aber selbst seine Anhänger bei den Konservativen und Nationalliberalen taten sich schwer, dafür die Argumente beizubringen. Als nächster Schritt wurde ein staatliches Aufkaufprogramm für polnische Güter auf den Weg gebracht und mit 100 Millionen Mark (etwa 1 Milliarde Euro nach Kaufkraft) dotiert.

Am 15. Januar und am 16. Januar 1886 kam es dann zu einer hitzigen Debatte im Reichstag. Die Mehrheit aus Deutsch-Freisinnigen, Deutscher Volkspartei, Zentrum, Sozialdemokraten und Polen verabschiedete schließlich eine Verurteilung der Maßnahmen, was von der offiziösen Presse als Sieg der “Reichsfeinde” gewertet wurde. Bismarck sorgte dafür, daß die Resolution des Reichstags im preußischen Landtag von seinen Unterstützern unschädlich gemacht wurde.

Seitens der Deutsch-Freisinnigen verurteilten die Ausweisungen Ludwig Bamberger, Ludwig Löwe, Heinrich Rickert und besonders eindringlich Julius Otto Ludwig Möller, der die Resolution der Partei, den Antrag Ausfeld und Genossen, begründete:

“Denn leider habe ich ja lieblose Aeußerungen hören müssen wie die: “Was gehen uns jene Fremden an? wer hat sie überhaupt geheißen, hierher zu kommen?” Ich will nun freilich die Frage ganz unerörtet und unentschieden lassen, ob diese Leute einen geschriebenen Satz des Völkerrechts zu ihrem Schutze anrufen könnten; das aber weiß ich doch, daß es ein Recht gibt älter und heiliger als alle geschriebenen Satzungen und Verträge, ein Recht, das schon heilig gehalten worden ist im Anfange aller Kultur: das Gastrecht! Und ich meine, daß es eines Volkes, welches, wie das deutsche, mit Recht stolz ist auf seine Kultur und seine Humanität, am allerwenigstens würdig sein kann, dieses alte heilige Recht zu verletzen oder auch nur ohne den entschiedensten Widerspruch verletzen zu lassen. Oder meinen Sie nicht, daß die gegenwärtigen Vorgänge einen Flecken auf den deutschen Namen werfen? (Sehr richtig! links.)”

Quelle: Digitale Sammlungen ULB Darmstadt

Die von den freisinnigen Politikern Eugen Richter, Ludolf Parisius und Hugo Hermes herausgegebene Wochenzeitung “Der Reichsfreund” — der Name bezog sich auf den Dauervorwurf, reichsfeindlich zu sein — begleitete die Ausweisungen mit einer Serie kritischer Berichte. So erinnerte man am 13. Februar 1886 daran, daß mit den Massenausweisungen die Tradition der Hohenzollern gebrochen wurde, die Preußen zu einem Einwanderungsland gemacht hatten:

Alte und neue Kolonisationen.

Die Hohenzollern kümmerten sich bei ihren Kolonisationen nicht um Religion und Nation ihrer Kolonisten — jeder ordentliche, fleißige Mann war ihnen recht, mochte er aus dem deutschen Reich oder aus Oesterreich, aus der Schweiz oder aus den Niederlanden, aus Italien oder Frankreich, aus Polen oder Rußland sein — mochte er Katholik oder Lutherisch oder Reformirt oder Griechischkatholisch, mochte er Hussit oder mährischer Bruder, Baptist oder Mennonit oder Phillipone oder Jude sein, mochte das Deutsche oder das Französische, das Italienische oder das Russische oder Polnische oder Tschechische seine Muttersprache sein. So hat der große Kurfürst in das verödete Brandenburg-Preußische Land Menschen hereingezogen — in die Kurmark z. B. durch Niederländer das “Holländische Bruch” bebauen lassen, in Berlin und anderen Städten durch französische Hugenotten eine nie gesehene Gewerbthätigkeit hervorgerufen. So hat Friedrich I. Waldenser, Pfälzer, Wallonen herangezogen, in Litthauische und Masurische Wüsten Schweizer verpflanzt. So hat Friedrich Wilhelm I., der freilich keine Polen und Juden leiden konnte, Ostfriesen und Niederländer und Polnische Mennoniten aufgenommen, auch 20,000 Salzburgern und den böhmischen Exulanten Besitzstand in Stadt und Land angewiesen. Friedrich der Große wünschte in Schlesien die Nationalitäten zu mischen, — wo alles polnisch ist, sollten nur Deutsche und in deutschen Gegenden polnische Leute angesetzt werden, aus dem Erzherzogtum Oesterreich und Steiermark, aus Böhmen, aus Ungarn und Siebenbürgen kamen sie gezogen, Italiener und Griechen — letztere aus Mazedonien, wurden nach Breslau berufen. Böhmen, die nur tschechisch sprachen, saßen in Rixdorf und Nowawes, Köpenick und Boxhagen bei Berlin, “Polnische Ueberläufer” erhielten sechsjährige Steuer- und Zollfreiheit. Dazwischen gab es eine Württembergische Kolonie und vom hessischen Amte Lichtenberg kamen an die 400 Familien nach der Neumark. In Westpreußen wurden alle Städte mit Auswanderern “meliert”. Die Schwabendörfer sind noch jetzt von den Polnischen auch äußerlich zu unterscheiden.

So früher. Jetzt werden erst an die 30,000 bis 40,000 Menschen, weil sie Oesterreichische oder Russische Staatsangehörigkeit haben, ohne Unterschied der Nation und der Religion ausgewiesen, und dann sollen durch viele Millionen Mark die Polnischen Güter ausgekauft werden, um an deutsche Ansiedler — nicht zur “Melirung” — sondern unter Ausschluß ehelicher Mischung — an Deutsche, die keine Polinnen heiraten, vergeben zu werden. Die deutschen Ansiedler dürfen nicht etwa “Deutsche” aus Oesterreich oder Rußland sein, — nein! nein! aus dem deutschen Reiche von Westen und Süden sollen sie auf polnischen Grund und Boden eingepflanzt werden.

Das stimmt alles herzlich wenig mit der alten Kolonisationspolitik der Hohenzollern — mit solchen Künsten wird der Reichskanzler keine Erfolge erzielen!

[Dies ist eine Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 27. April 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Wirtschaftsflüchtlinge 1881

1881 erreicht die Auswanderung aus Deutschland einen Höchststand mit 220.902 Emigranten. Eines der Schiffe auf der Route nach Amerika ist der Dampfer “Vandalia”. Am 19. Juni 1881 verläßt er Hamburg mit 1000 hauptsächlich deutschen Auswandern an Bord: Kurs New York.

Wie die neuseeländische Evening Post am 24. September 1881 berichtet, geschieht dann das folgende:

Drei Tage nach Ablegen versagt der Antrieb und die “Vandalia” treibt hilflos auf dem Meer westlich der Isle of Lewis umher. Da es keine Nachrichten gibt, wird befürchtet, daß das Schiff gesunken sein könnte. Doch dann wird die “Vandalia” von einem schwedischen Schiff entdeckt, das Hilfe holt. Die Versuche eines weiteren russischen Schiffs, die “Vandalia” in Sicherheit zu bringen, scheitern jedoch.

Als der Postdampfer “Express” den Dampfer wiederfindet, brechen die Passagiere in Jubel aus. Zusammen mit der größeren “Conqueror” wird die “Vandalia” am 7. Juli in Schlepptau genommen und nach Stornoway gebracht. Da es dort keinen sicheren Platz gibt, geht es weiter nach Greenock, wo man am 9. Juli 1881 anlangt. Den Passagieren wird angeboten, auf ein anderes Schiff umzusteigen. Sie bleiben aber der “Vandalia” treu und fahren mit ihr weiter nach New York.

File:Berliner Wespen.png

Das Satireblatt “Berliner Wespen” bedankt sich — ausnahmsweise ernst gestimmt — für die Rettung am 13. Juli 1881 mit einem Gedicht:

 

“Vandalia” und “Conqueror”

“Vandalia”, die wir glaubten schon verloren
Im Kampfe mit dem zornentbrannten Meer,
Sei uns gegrüßt, die Du wie neugeboren
Gerettet in den Hafen kommst daher.

Und lauter Jubel dringt zu unsern Ohren —
An die wir dachten schon so sorgenschwer,
Sie kehren heim, kein Einz’ger ist verloren.
O doppelt freudenvolle Wiederkehr!

Du aber, “Conqueror”, der Du als Retter
Erschienst, ein treuer Bote güt’ger Götter,
Und von uns nahmst der Sorge schwere Last.

Du bist Erob’rer, nicht nur wirst Du tragen
Den Namen, nein, Du bist’s nach kühnem Wagen
Da Du erobert uns’re Herzen hast!

[Dies ist ein leicht überarbeiteter Artikel, der zuerst auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” am 12. Juli 2012 erschienen ist.]

Lant Pritchett: Let Their People Come

Wie läßt sich die Armut in der dritten Welt lindern? Das ist die Frage, mit der sich Lant Pritchett in seinem sehr empfehlenswerten Buch Let Their People Come aus dem Jahre 2006 befaßt. Pritchett ist von Haus aus Ökonom, promovierte am MIT und arbeitete dann längere Zeit für die Weltbank. Aktuell lehrt er an der Harvard Kennedy School. Und sein Vorschlag ist, wie der Untertitel lautet: Breaking the Gridlock on Global Labor Mobility. Nicht allein sollte die Grenzen für Kapital und Güter, sondern auch für Arbeit geöffnet werden.

Das Buch beginnt mit einer Bestandsaufnahme, welche Tendenzen für einen wachsenden Druck sorgen werden, Grenzen für Arbeit zu öffnen. Diese werden als fünf “irresistible forces” diskutiert:

  1. Riesige Einkommensunterschiede besonders bei “unskilled labor”, die durch zwangsweisen Ausschluß aufrechterhalten werden.
  2. Unterschiedliche demographische Entwicklungen
  3. Die unvollendete Globalisierung, die Arbeit bislang weitgehend ausnimmt.
  4. Ein wachsender Bedarf an “low-skilled, hard-core non-tradables” — einfacher Arbeit, die nicht über Grenzen gehandelt, sondern nur vor Ort erbracht werden kann, z. B. Dienstleistungen von Frisören, Gärtnern, usw.
  5. Optimale Bevölkerungsgrößen, die sich über die Zeit ändern, und bei denen Abwanderung Druck vermindern kann.

Für den letzten Punkt gibt Lant Pritchett ein interessantes Beispiel: Im 19. Jahrhundert wanderte die Hälfte der irischen Bevölkerung bei offenen Grenzen ab. Dies führte dazu, daß für die verbleibenden Iren das Bruttosozialprodukt pro Kopf in etwa konstant blieb. Anders bei geschlossenen Grenzen:  Die bolivianische Bevölkerung wuchs ohne eine Abwanderungsmöglichkeit im 20. Jahrhundert weiter, obwohl die Grundlage für den vorherigen Wohlstand aus dem Abbau von Rohstoffen schwand. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf sank drastisch ab.

Einen ähnlichen Zusammenhang stellt Pritchett auch anhand der internen Wanderungen in den USA dar. Gewisse Landstriche locken wegen guter Entwicklungsmöglichkeiten Menschen an, aber verlieren diese je nachdem über die Zeit auch wieder. Da es aber keine inneren Grenzen gibt, paßt sich die Bevölkerung an die sich verändernden Bedingungen an. Menschen wandern von den uninteressanten in die interessanten Gebiete ab. Für die Zurückgebliebenen bedeutet das einen eher geringen Rückgang des Wohlstandes, weil Arbeitskräfte den lokalen Markt verlassen können. Auf nationaler Ebene ergeben sich zwar nicht gleiche, aber relativ ähnliche Lebensbedingungen. Manche Gebiete, Ghost Towns, werden sogar wieder ganz entvölkert, weil die wirtschaftliche Grundlage einfach verschwunden ist. Zöge man hier Grenzen ein, so würden sie sich stattdessen in etwas verwandeln, das Pritchett auf Länderebene als “Zombie Countries” bezeichnet: wirtschaftlich tote Gebiete, in denen Menschen festsitzen.

Auf globaler Ebene stehen einem solchen Ausgleich durch offene Grenzen allerdings starke Kräfte entgegen. Lant Pritchett faßt diese als acht “immovable ideas” zusammen und diskutiert deren Stichhaltigkeit:

  1. Nationalität als “legitimer” Grund für Diskriminierung, mit einem sehr treffenden Vergleich der Entrüstung über die Apartheid innerhalb Südafrikas seinerzeit, aber der vollkommenen Gleichgültigkeit über die viel größere globale Apartheid.
  2. Die “moralische”, jedoch eigentlich perverse Einstellung, daß Menschen nur in der Nähe nicht arm sein dürfen, aber gerne weit weg, wo man sie nicht wahrnehmen muß.
  3. Die geistige Fixierung auf das Wohl von Staaten und nicht von Menschen, z. B. wird jemand, der abwandert und sein Leben verbessert, nicht als Gewinn gesehen, sondern als Verlust für den betreffenden Staat.
  4. Die Illusion, daß man Menschen in ihrem Land festhalten und durch andere Mittel allein einen Ausgleich schaffen könnte, beispielsweise durch erleichterten Handel, bessere Mobilität von Kapital oder Entwicklungshilfe.
  5. Die Befürchtung, daß Löhne für Einheimische sinken würden und/oder die Arbeitslosigkeit wächst.
  6. Die Behauptung, daß Einwanderer die Staatsausgaben belasten.
  7. Sorgen um erhöhte Kriminalität und Terrorismus
  8. Und Argumente eines Culture Clashs: “They” are not like “us”.

Lant Pritchett argumentiert zwar gegen die acht Einwände, geht aber davon aus, daß diese sich auf absehbare Sicht als Einstellung des größten Teils der Bevölkerung in den entwickelten Ländern nicht ändern lassen. Von daher sucht er nach Möglichkeiten, im Sinne des Titels die verfahrene Situation zu durchbrechen.

Zunächst stellt er fest, daß die Einwanderung von qualifizierten Arbeitnehmern auf vergleichsweise geringen Widerstand in den entwickelten Ländern trifft. Das läßt sich recht leicht anhand der Standardeinwände erklären, weil hier zwar genauso Löhne durch Zuwanderung gesenkt werden könnten, aber eher für gut Verdienende, was als weniger bedrohlich wahrgenommen wird. Doch gleichzeitig hilft eine solche selektive Wanderung auch wenig, die Armut in der Welt zu lindern, weil die große Masse der Armen nur recht unqualifizierte Arbeit anzubieten hat.

Zu welch widersinnigen Erscheinungen die Beschränkung der Wanderung für wenig Qualifizierte führt, illustiert Pritchett an einem Beispiel: Er und sein Nachbar stellten eines Tages fest, daß sie sich beide einen kleinen Traktor für ihren Garten gekauft hatten. Beim zweiten Nachdenken ging Pritchett auf, daß die Entwicklung solcher Traktoren nur deshalb so interessant in den entwickelten Ländern ist, weil unqualifizierte Arbeit systematisch ausgeschlossen wird. Bei offenen Grenzen würde er wohl eher einen Gärtner einstellen, dem es viel besser als zuhause ginge, und sich seine eigene Zeit und Mühe sparen.

Lant Pritchettt wendet sich dann Versuchen zu, offenere Grenzen für Arbeit ähnlich wie bei der Öffnung der Grenzen für Güter und Kapital im Rahmen internationaler Abkommen auszuhandeln, insbesondere im Rahmen des “GATS mode 4″. Allerdings ist nach Pritchetts Einschätzung eine solche Vorgehensweise nicht sehr erfolgsversprechend, weil beispielsweise Regelungen wie die von “meistbegünstigten Ländern” mit den Vorbehalten der acht “immovable ideas” kollidieren. Er stellt deshalb mehrere Anpassungen vor, die die Widerstände umgehen könnten:

  1. Bilaterale Abkommen anstatt weltweiter Regelungen
  2. Zeitlich begrenzter Aufenthalt ohne regelrechte Einwanderung
  3. Quoten nach Berufsgruppen
  4. Verbesserung der Wirkung auf die Entwicklung des Ausgangslandes
  5. Einbeziehung des Ausgangslandes bei der Umsetzung
  6. Ausdrücklicher Schutz von Menschenrechten für die Wandernden

Nach den Argumenten der vorherigen Abschnitte ist klar, daß Lant Pritchett diese Vorschläge nicht macht, weil er sie für notwendig hält, sondern um auch bei Hinnahme der gängigen Einwände die Lage von armen Menschen zu verbessern. Beispielsweise könnten Vorbehalte wegen der Auswirkungen auf den inländischen Arbeitsmarkt entschärft werden durch eine entsprechende Quotierung, Vorbehalte gegen Einwanderung aus gewissen Regionen durch bilaterale Verträge oder eine zeitliche Befristung.

Leider — aber das ist nicht Pritchetts Schuld — könnte ein solches Regime, das er als Kompromiß anbietet, nicht der erste Schritt in Richtung offener Grenzen sein, sondern gleich der letzte, bei dem nur temporär und punktuell gewisse Lücken im inländischen Arbeitsmarkt gefüllt werden.

Ein historischer Vergleich wäre hier die Entwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Während der Norddeutsche Bund und dann das Kaiserreich eine der liberalsten Gesetzgebungen weltweit hatte, bei der praktisch jeder ohne weiteres einwandern konnte, kam es vermutlich nur aus innenpolitischer Taktiererei Bismarcks ab Mitte der 1880er Jahre zu einer harten Abschottung nach Osten, die ihren Höhepunkt in den Massenabschiebungen von Polen 1885/1886 erreichte.

Als selbst Konservative rebellierten, weil ihnen die polnischen und russischen Arbeiter auf ihren Gütern fehlten, bequemten sich die Nachfolger Bismarcks in den 1890ern zu einer Regelung, die dem Kompromißvorschlag von Pritchett ähnelte: Arbeiter durften nur zeitweise und nach Quoten in gewisse Regionen Deutschlands und mußten über den Winter wieder nach Hause zurückkehren; eine dauerhafte Einwanderung war nicht mehr möglich wie vorher. Und das war es dann auch. Dieses Regime wurde ab jener Zeit nur noch weiter institutionalisiert und perfektioniert. Zu einer Öffnung der Grenzen kam es nicht mehr.

Das soll aber die Leistung von Lant Pritchett keineswegs schmälern. Sein Buch enthält eine Fülle von guten Argumenten. Und er macht auch seine Position klar, die viel weitgehender ist und von der aus er nur einen Kompromiß sucht, um die Lage vieler Menschen auf absehbare Zeit zu verbessern. Vieles daran sollte nicht nur für ein amerikanisches Publikum, an das sich das Buch hauptsächlich wendet, von Interesse sein, sondern auch für ein europäisches.

[Dies ist eine leicht gekürzte Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 11. Juni 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Einwanderung in die Sozialsysteme?

Als Argument gegen offene oder wenigstens offenere Grenzen wird häufig eingewandt, daß dies zu einer “Einwanderung in die Sozialsysteme” führe. Der vormalige Innenminister Friedrich und die CSU griffen dieses Schlagwort etwa in der letzten Zeit auf. Und nicht allein bei Konservativen ist eine solche Sicht beliebt, auch unter Liberalen wird sie häufig geteilt. Niemand Geringeres als Milton Friedman formulierte es so:

Because it is one thing to have free immigration to jobs. It is another thing to have free immigration to welfare. And you cannot have both. If you have a welfare state, if you have a state in which every resident is promised a certain minimal level of income, or a minimum level of subsistence, regardless of whether he works or not, produces it or not. Then it really is an impossible thing.

Heraus kommt bei Liberalen dann oft eine Position folgender Art: “Im Prinzip bin ich natürlich für offene Grenzen. Aber unter den gegebenen Umständen würde das zu einer Einwanderung in die Sozialsysteme führen. Von daher bin ich dagegen.” Effektiv bedeutet das, daß das “Prinzip” keinerlei Bedeutung hat und nur zur Beruhigung des liberalen Gewissens dient.

Dabei wäre eine einfache Auflösung des Problems auch anders denkbar: Man könnte Einwanderern keinen Zugang zu den Sozialsystemen gewähren, auf Dauer oder wenigstens für eine Karenzzeit, in der sie durch Abgaben und Steuern in Vorleistung gehen. Natürlich würde das auf das Gegenargument stoßen, daß der deutsche Staat ein “Menschenrecht” hochzuhalten habe. Doch derselbe deutsche Staat kennt ein solches “Menschenrecht” gar nicht. Klassischerweise ist das immer ein “Deutschenrecht” gewesen. Über die Zeit sind gewisse Gruppen hier gleichgestellt worden, etwa Ausländer, die mit Genehmigung des deutschen Staates in Deutschland leben. Der weitaus größte Teil der Menschheit bleibt aber auch so schon ausgeschlossen. Soetwas als “Menschenrecht”, das heißt als ein Recht, das jemandem qua Menschsein zukommt, zu bezeichnen, ist gelinde gesagt irreführend.

Doch was ist überhaupt dran an der Behauptung mit der “Einwanderung in die Sozialsysteme”?

Man kann hier natürlich auf Einzelfälle verweisen, bei denen von bestimmten Einwanderern Leistungen abgegriffen werden, ob innerhalb des rechtlichen Rahmens oder außerhalb davon. Doch mit Einzelfällen ist wenig bewiesen, solange man es nicht schafft, eine allgemeine Aussage aus ihnen abzuleiten. Einzelfälle gibt es ja auch für Deutsche. Jeder, der nicht blind durch die Welt läuft, hat solche schon einmal mitbekommen, etwa “Arbeitslose”, die sich schwarz etwas dazuverdienen.

Eine andere Argumentation versucht, die Frage apriori dadurch zu entscheiden, daß man den Bezug von Sozialleistungen als rationales Verhalten von Einwanderern schildert. Jemand, der aus einem armen Land kommt, dem muß es doch traumhaft vorkommen, sich vom Staat versorgen zu lassen auf einem weit höheren Niveau als zuhause. Doch wenn das rational ist, dann auch, daß jemand zum Arbeiten hierher kommt, mit dem er noch mehr bekommen kann. Man kann die Sinnhaftigkeit der Sozialsysteme hinterfragen, doch immerhin sind sie so beschaffen, daß sich durch Arbeit mehr an Wohlstand erreichen läßt als etwa durch Hartz IV. Wenn hier auch das Gefälle je nachdem nicht richtig sein mag und falsche Anreize schafft, dann gilt dies gleichermaßen für Einwanderer wie für Deutsche. Und dann sollte man seine Kritik auf eine Reform solcher Verhältnisse konzentrieren.

Apriori läßt sich die Frage allerdings auch gar nicht entscheiden, sondern nur empirisch. Es kann sein, daß sehr viele Einwanderer Leistungen in Anspruch nehmen oder auch nur wenige. Daß es welche gibt, ist noch nicht das Problem, nur wenn es so viele wären, daß die anderen Einwanderer, die in die Systeme einzahlen, das nicht kompensieren und somit von anderer Seite zugeschossen werden müßte, und das in einem erheblichen Ausmaß.

Deshalb zurück zur oben gestellten Frage: Wie steht es denn mit der “Einwanderung in die Sozialsysteme” aus?

Wenn man die Debatte verfolgt, hat man fast den Eindruck, als wenn es sich hier um ein großes Problem handelt. Schaut man sich die Zahlen an, dann wird man eines anderen belehrt. Dankenswerterweise hat die OECD nämlich dazu vor kurzem eine Studie, den “International Migration Outlook 2013”, vorgelegt, die unter anderem die fiskalische Nettoposition (Beiträge minus Leistungen) für Einwanderer in den zu ihr gehörenden Ländern darstellt. Das Ergebnis bestätigt die Befürchtungen nicht, im Gegenteil.

Es ist nicht ganz einfach, eine solche fiskalische Nettoposition zu berechnen, weil die Abgrenzung nicht unbedingt nur auf eine Weise geschehen kann. Man könnte sich dazu auf die ausländischen Staatsbürger im Inland konzentrieren. Das schmälert allerdings die Vergleichbarkeit, weil die einzelnen Staaten unterschiedlich leicht und oft einbürgern. Stattdessen werden von der OECD als Referenz die Menschen genommen, die im Ausland geboren wurden (“foreign-born”).

Hiermit ergibt sich folgendes Bild: Die fiskalische Nettoposition ist in allen OECD-Ländern von der Größenordnung her gering. Gemessen in Prozent vom Bruttoinlandsprodukt reicht die Bandbreite von -1,13% bis +2,02%. In 19 Ländern ist sie positiv, in zweien neutral und nur in fünf negativ. Für die OECD liegt sie durchschnittlich bei +0,35%. Es wird also netto von den Einwanderern in die Sozialsysteme eingezahlt.

Für manchen vielleicht verblüffend ist die Lage für Länder mit hoher Einwanderung besonders günstig. Luxemburg steht hier bei +2,02%, die Schweiz bei +1,95%. Auf dem dritten und vierten Platz folgen zwei Länder, aus denen eher Gejammer über Einwanderung zu vernehmen ist: Italien und Griechenland mit jeweils +0,98%. Mit anderen Worten: hier subventionieren die Einwanderer die Inländer. Auf den ersten Blick sieht die Situation für Deutschland schlecht aus mit dem Schlußplatz von -1,13%. Allerdings resultiert dies nur aus den Leistungen, die Einwanderer aus dem Rentensystem beziehen.

Nimmt man diese aus, so stellt sich ein anderes Bild ein: die fiskalische Nettoposition verbessert sich für die OECD auf +0,57% im Mittel. Es gibt nur noch drei Länder mit einer negativen Position, die auch im schlechtesten Fall (USA mit -0,51%) geringer ausfällt als inklusive Rentensystem. Luxemburg und die Schweiz stellen sich noch besser mit +2,2% und +2%. Für Deutschland ergibt sich nun ein positiver Saldo von +0,21%. Das ist auch eher die relevante Zahl, wenn es um in der Regel junge Einwanderer geht, die auf lange Sicht keine Renten beziehen werden. Um es zu betonen: diese subventionieren die Inländer, nicht umgekehrt.

Wie läßt sich der Unterschied zwischen den Zahlen mit und ohne Rentensystem erklären?

Ein großer Teil der auswärts Geborenen wanderte von den späten 50er bis in die 70er Jahre ein. Danach wurde die Zuwanderung aus politischen Gründen gedrosselt. Von daher finden sich unter den Einwanderern viele ältere Jahrgänge. Im Schnitt waren von 2007 bis 2009 die Haushaltsvorstände zu 33,5% zwischen 64 und 75 Jahren, zu 12,3% über 75 Jahre alt, sodaß gut 40% im Rentenalter lagen (vgl. Seite 171 der Studie). Allerdings  haben diese Menschen auch über lange Zeit in die Systeme eingezahlt. Und die Kinder und Enkel mit ihren Beiträgen fallen aus der Betrachtung heraus, da sie wohl meist in Deutschland geboren sind. Betrachtet man nur die ausländischen Staatsangehörigen mit ihrer jüngeren Altersstruktur, so ist der Saldo für diese auch positiv (siehe Seite 176).

Aufgrund der Altersstruktur sind die Zahlen für die einzelnen Aufwendungen nicht einfach vergleichbar, aber doch interessant. Einwanderer beziehen 30% weniger an Arbeitslosenunterstützung als Inländer und 40% weniger für Familienunterstützung, dafür 20% mehr an Sozialhilfe und 40% mehr an Wohnzuschüssen und Rente (siehe Seite 173). Hier nur die eine Seite zu nennen, wie es oft geschieht, verzerrt das Bild und unterstützt den Eindruck, als wenn einseitig nur Leistungen bezogen würden.

Um es zusammenzufassen:

  • Einwanderer zahlen in der OECD und den meisten ihrer Länder netto mehr in die Sozialsysteme ein, als sie erhalten.
  • Selbst wo die fiskalische Nettoposition negativ ausfällt, ist sie eher gering.
  • Der negative Saldo für Deutschland rührt vom Rentensystem und der Altersstruktur der Einwanderer her.
  • Beachtet man, daß ihre Nachkommen zwar einzahlen, aber meist aus der Betrachtung herausfallen und die heutigen Rentner über lange Zeit eingezahlt haben, dann relativiert sich diese Aussage weiter.
  • Die fiskalische Nettoposition wäre günstiger, wenn es mehr Einwanderung gegeben hätte. Wenn Deutsche sich darüber beklagen, dann müßten sie sich an die eigene Nase fassen, weil sie eine solche Politik oft selbst gefordert haben.
  • Fazit: Es hat bis jetzt netto eine “Einwanderung in die Sozialsysteme” eher auf der Zahlerseite gegeben. Das ist aber etwas ganz anders, als was oft suggeriert wird.

Nun kann man natürlich einwenden, daß das nur für die Vergangenheit galt, aber ab nun etwas anderes drohe. Bei völlig offenen Grenzen könne es anders aussehen. Es würde andere Menschen kommen, für die die Zusammenhänge anders wären. Etc.

Das ist natürlich alles möglich. Aber: Es spricht ja solange nichts dagegen, die Grenzen weiter zu öffnen, wie die Verhältnisse sich nicht umkehren. Daß Einwanderer die Inländer subventionieren, darüber braucht man sich nicht beklagen.

Und selbst wenn sich der Saldo ab einem gewissen Punkt umkehren würde und das in einem erheblichen Ausmaß, dann wären auch andere Vorschläge verfügbar, die nicht pauschal Einwanderung unterbinden: eine stärkere Ausgestaltung der Sozialsysteme zugunsten von denen, die arbeiten, sowie eine Beschränkung des Zugangs zu den Sozialsystemen für Einwanderer, sei es temporär oder, wenn es nicht anders ginge, dauerhaft.

Doch erst einmal müßte man ja ein Problem haben, bevor man es lösen muß.

[Dies ist eine leicht gekürzte Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 15. Oktober 2013 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Im Zweifel für offene Grenzen

Man kann offene Grenzen vertreten als ein unbedingtes Prinzip: In jedem Fall und unter allen Umständen sollten Grenzen offen sein. Wer das tut, hat den Vorteil, dass er sich niemals um den einzelnen Fall und seine Umstände kümmern muss, sondern von vornherein weiß, wie er jede Situation zu beurteilen hat.

Allerdings hat das einen Nachteil: Man muss dann auch konsequenterweise in jedem nur denkbaren Fall für offene Grenzen eintreten, auch dann, wenn es einem selbst vielleicht intuitiv nicht so zwingend erscheinen mag. Auf Englisch würde man sagen: You have to bite the bullet.

Dies ist die Stelle, an der viele Einwände gegen offene Grenzen ansetzen. Schon fast reflektorisch versuchen Gegner offener Grenzen extreme Fälle zu konstruieren, die die Forderung nach offenen Grenzen ad absurdum führen sollen. Um das Muster solcher Einwände selbst zu übertreiben, sei folgender Fall angenommen:

Eine stark ansteckende Krankheit befällt eine mit Massenvernichtungsmitteln bewaffnete Armee, deren Soldaten bereits vorher als ihr höchstes Ziel angesehen haben, die Bewohner eines Landes auszulöschen. Die Krankheit verwandelt die Soldaten in Zombies, die nun unter allen Umständen ihr Ziel umsetzen wollen und das auch ganz offen vertreten.

Darf man diesen Menschen den Zugang zu dem Land verweigern und dies auch mit Zwang durchsetzen?

Der Anhänger eines unbedingten Prinzips muß hier, ohne zu zucken, sofort sagen, daß er das ablehnt. Die allermeisten würden hingegen in diesem Fall wohl dazu neigen, offene Grenzen nicht gelten zu lassen. Die Forderung nach offenen Grenzen erscheint für Gegner, aber auch viele, die kein absolutes Prinzip anerkennen möchte, somit als absurde Prinzipienreiterei. Und der Gegner von offenen Grenzen meint, damit den entscheidenden Sieg davongetragen zu haben.

Eine Möglichkeit zu antworten, ohne ein unbedingtes Prinzip aufzugeben, wäre es, darauf zu verweisen, daß der konstruierte Fall gar nicht auftreten kann. Im obigen Fall waren die Annahmen tatsächlich so bizarr, daß sich das leicht argumentieren läßt. Aber wer im Prinzip auf offenen Grenzen besteht, muß auch prinzipiell jede Möglichkeit zulassen. Und dann kann man den Fall so weit abschwächen, daß sich die schiere Unmöglichkeit nicht mehr so leicht vertreten läßt. Einige nicht unübliche Varianten wären dabei etwa diese:

  • Was wäre denn, wenn jemand eine extrem ansteckende und tödliche Krankheit hätte?
  • Was wäre, wenn er mit Massenvernichtungsmitteln in das Land will?
  • Was wäre, wenn er erklärtermaßen die Vernichtung der Einwohner in dem Land vorhat?
  • Was wäre, wenn er Teil einer Okkupationsarmee, Terrorgruppe oder Bande ist, die gegen die Bevölkerung des Landes mit Gewalt vorgehen will?

Natürlich kann man dazu anmerken, daß solche Fälle selten sind. Aber zu argumentieren, daß sie niemals vorkommen können, ist wohl schwer. Und wird der Anhänger eines unbedingten Prinzips dann immer noch für offene Grenzen eintreten? Wohl vielen anderen würde das intuitiv so gegen den Strich gehen, daß sie dies für eine reductio ad absurdum von offenen Grenzen hielten.

Ist damit der Fall für offene Grenzen erledigt?

Nur wenn man davon ausgeht, daß es keine Ausnahmen unter irgendwelchen Umständen geben darf, unter denen offene Grenzen nicht gelten könnten. Was der Gegner von offenen Grenzen bis hierhin gezeigt hat, ist nämlich nur, daß man vielleicht gewisse Ausnahmen zugestehen muß.

Der Normalfall von Einwanderung ist aber eben nicht die atomwaffenschwingende Zombiearmee (außer vielleicht in der überspannten Rhetorik einiger extremer Grenzschützer). Der Normalfall ist ein Einwanderer, der nichts Schlimmeres vorhat, als für sich und seine Familie seine Lage zu verbessern, sei es in Freiheit zu leben oder seinen Wohlstand zu mehren, und der keinerlei Absichten hegt, gegen die Bevölkerung des Landes mit Gewalt oder auf andere unrechte Weise vorzugehen. Was hat denn der Gegner von offenen Grenzen für diesen mit den extremen Beispielen bewiesen?

Eigentlich gar nichts. Daß es in extremen Fällen Ausnahmen von offenen Grenzen geben könnte, beweist doch nicht, daß das auch im Normalfall so sein müßte. Warum sollte denn dem Einwanderer, der sein Leben verbessern will, ohne etwas Unrechtes vorzuhaben, unterstellt werden, daß er sich in einer Klasse mit den auf Ausrottung bedachten Soldaten einer Zombiearmee befindet und gerade so behandelt werden dürfte?

Von daher scheint folgende Position für offene Grenzen wesentlich besser im Einklang mit den moralischen Intuitionen vieler Menschen auf beiden Seiten der Frage zu sein:

Im Zweifelsfall sollten Grenzen offen sein. Ausnahmen sind nur zulässig in wohlbegründeten Fällen. Es gilt ein starker Vorbehalt für offene Grenzen. Die Regel sind offene Grenzen, die Ausnahme sind geschlossene Grenzen.

Der Nachteil mag an einer solchen Position sein, daß man sich auf Detaildiskussionen einlassen muß, was denn wohlbegründete Fälle sind, in denen offene Grenzen nicht gelten würden. Grundsätzlich wäre es sogar denkbar, daß man so viele dieser Fälle zugestehen müßte, daß Grenzen eher nicht offen wären, gemessen an einem abstrakten Maßstab. Dafür hat man aber auch den Vorteil, daß man ab jetzt von ähnlichen intuitiven Annahmen ausgehen kann wie die vieler anderer Menschen, inklusive vieler Gegner von offenen Grenzen, und der Vorwurf einer Prinzipienreiterei entfällt, die keine Rücksicht auf Gegebenheiten nimmt.

Eine solche Position ist dabei durchaus nicht die Bestätigung des Status Quo. Dieser geht nämlich von der umgekehrten Beweislast aus:

Im Zweifelsfall sollten Grenzen geschlossen sein. Ausnahmen sind nur zulässig in wohlbegründeten Fällen. Es gilt ein starker Vorbehalt für geschlossene Grenzen. Die Regel sind geschlossene Grenzen, die Ausnahme sind offene Grenzen.

Bei der hier angestellten Betrachtung ging es nur darum ein Prinzip „im Zweifel für offene Grenzen“ zu erläutern. Wie gesagt, könnte sich bei näherem Hinsehen herausstellen, daß daraus nichts wesentlich anderes als der Status Quo ergäbe. Daß das nicht so ist und daß eine Position „im Zweifel für offene Grenzen“ zu sehr anderen Schlüssen führt und eine große Veränderung gegenüber dem gegenwärtigen Zustand darstellen würde, das läßt sich nicht in ein paar Sätzen zeigen. Dazu muß man sich auf die Argumente für geschlossen Grenzen in bestimmten Fällen einlassen.

Es sei nur bemerkt, daß die obigen Einwände im Sinne einer Zombiearmee zu fast keinen Konsequenzen führen: Ja, in diesen Fällen mag es gute Gründe geben, die Grenzen auch mal geschlossen zu halten. Aber dafür sind diese Fälle auch wirklich eine extreme Ausnahme. Der Anhänger offener Grenzen kann diese Ausnahmen relativ einfach zugestehen, ohne daß sich praktisch viel an seiner Position gegenüber einer absoluten Position für offene Grenzen ändern würde.

Herzlich willkommen bei Offene Grenzen: Das Argument!

Seit dem 16. März 2012 gibt es die englischsprachige Website “Open Borders: The Case” , die sich um Argumente für offene Grenzen dreht, aber dabei auch nicht vernachlässigt, Argumente gegen offene Grenzen zu sammeln, zu sichten und Gegenargumente zu entwickeln.

Da das Interesse am Thema “Offene Grenzen” auch im deutschsprachigen Raum mehr und mehr wächst, erschien eine parallele Website auf Deutsch angebracht, die ab nun aufgebaut wird. Zunächst starten wir mit der bewährten Struktur und dem Material von “Open Borders: The Case”. Von daher sollte sich der Leser nicht wundern, wenn er je nachdem, zunächst sogar überwiegend, auf noch unübersetztes Material in Englisch stößt. Dieses soll Schritt für Schritt durch Übersetzungen oder Überarbeitungen in Deutsch ersetzt werden.

Auch eine gewisse Verschiebung des Fokus von einer amerikanischen hin zu einer deutschen oder europäischen Perspektive erscheint angemessen. Und es wird hier auch Material geben, das für ein globales Publikum weniger von Interesse ist, dafür für eines im deutschsprachigen Raum umso mehr. Im Sinne von offenen Grenzen ist mit dem Domänennamen “de.openborders.info” dabei keine Beschränkung auf Deutschland gemeint. Leser und Mitarbeiter aus Österreich, der Schweiz, Luxemburg und grundsätzlich alle, die auf Deutsch lesen und schreiben möchten, sind hier herzlich willkommen.

Wer Interesse hat, mitzuarbeiten, der melde sich bitte bei mir unter Hansjoerg_Walther@yahoo.com.