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Venedig, Stadt der Zuflucht

Aus Peter Ackroyds lyrisch wunderschöner Geschichte von Venedig, genannt Venice, Pure City:

Venedig wurde wie ein großes Schiff auf dem Meer konstruiert… Das Schiff war einst, für die frühen Siedler, ein Zufluchtsort. Das Schiff von Venedig war von Anfang an ein Hafen für Exilsuchende und Umherschweifende. Es war eine offene Stadt, die bereitwillig all jene aufnahm, die sich innerhalb ihrer Grenzen begaben. Ein Reisender schrieb im 15. Jahrhundert: „Die meisten Menschen sind Ausländer,“ und im folgenden Jahrhundert hielt ein Venezianer fest, dass „abgesehen von den Patriziern und Bürgern alle anderen Ausländer sind und sehr wenige nur Venezianer.“ Er bezog sich in erster Linie auf die Krämer und Handwerker. Um 1611 beschrieb der englische Diplomat Sir Dudley Carlton Venedig eher als einen „Mikrokosmos“ denn eine Stadt. Es wurde in der Gestalt der Orbis [der Welt] geschaffen statt in der der Urbis [Stadt]. Und so blieb es für den Rest seiner Geschichte. Da waren Franzosen und Slawen, Griechen und Flamen, Juden und Deutsche, Orientalen und Spanier, und auch verschiedene Bürger vom Festland Italiens. Bestimmte Straßen waren nach ihnen benannt. Alle Länder Europas und des vorderen Orients waren vertreten. Es war etwas, das alle Reisenden bemerkten, als ob sie auf dem Markusplatz plötzlich mitten auf dem Turm zu Babel angekommen wären.

Kein anderer Hafen in der Welt beherbergte so viele merkwürdige Menschen. Auf vielen Gemälden aus dem 19. Jahrhundert sieht man die Gaberdinen der jüdischen Kaufleute, die scharlachroten Kopfbedeckungen der Griechen und die Turbane und Roben der Türken im Getummel der gehobeneren Trachten und Zylinder der venezianischen Herren. Es kann gesagt werden, dass die Venezianer ihre eigene Identität in fortwährender Verschiedenheit zu denen geformt haben, die unter ihrem Schutz standen. Den Deutschen wurde ihr eigenes Miniatur-Deutschland zugestanden, in einem Komplex bekannt als der Fondaco dei Tedeschi, in Rialto, der zwei Speisehallen und 80 separate Räume beinhaltete. Die Händler wurden von der Regierung beaufsichtigt und überprüft, aber es wurde gesagt, sie „lieben die Stadt von Venedig mehr als ihr Heimatland.“ Im sechzehnten Jahrhundert siedelten sich in großer Anzahl die Flamen an. Die Griechen hatten ihr eigenes Viertel mir ihrer eigenen orthodoxen Kirche. Nach dem Fall Konstantinopels um 1204 und der Aufgabe dieser Stadt an die Türken um 1453 gab es einen weiteren Zustrom von byzantinischen Griechen – unter ihnen Soldaten, Seefahrer, Künstler und Intellektuelle, die nach einem Schutzherren suchten. Die Armenier und Albaner hatten ihren eigenen Distrikt. Schließlich wurde auch ein armenisches Kloster auf der Insel von San Lazzaro errichtet, wohin der Dichter Byron zum Erlernen der armenischen Sprache reiste um neben dem Genuss der lustvolleren Freuden von Venedig auch seinen Geist zu beschäftigen. Es gab eine Kolonie türkischer Kaufleute, eingerichtet als Fondaco dei Turchi, wo eine Schule zum Lehren der arabischen Sprache unterhalten wurde. So war Venedig der Schauplatz für ein blühendes kosmopolitisches Leben. Es waren nicht Altruismus oder Gönnerhaftigkeit, die diese einladende Umarmung hervorgerufen haben. Venedig hätte ohne seine Einwanderer nicht überleben können. Manche von ihnen wurden auf den Rang von Vollbürgern gehoben; manche von ihnen haben sich in die einheimische Bevölkerung eingeheiratet.

Sie waren, natürlich, nicht alle so wohl behütet. Viele tausende arme Einwanderer drängten sich auf billigstem engstem Raum, teilten sich die Ecke eines Raumes mit anderen der selben Rasse oder Nationalität. Viele von ihnen kamen als Flüchtlinge vor Kriegen auf dem Balkan oder aus unvorstellbarer Armut; einige von ihnen entkamen der Pest. Sie scharten sich in den ärmeren Gemeinden und als Ergebnis des Zustroms ist Venedig im sechzehnten Jahrhundert zur am dichtesten bevölkerten Stadt in Italien geworden. Die Einwanderer stellten der Stadt auch billige Arbeit bereit und wurden sogar in den Kombüsen der venezianischen Kriegsschiffe eingestellt. Sie verrichteten die Arbeit, welche die Venezianer selbst zu vermeiden vorzogen.

Im vierzehnten Jahrhundert feierte der italienische Dichter Petrarch Venedig als den „einzigen Hort unserer Tage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, die einzige Zuflucht für das Gute.“ Als Hafen zog es Beiwörter wie “Schutz” und “Zuflucht” auf sich. Diese waren natürliche Bilder. Pietro Aretino, selbst Exilant aus Rom, der in Venedig einen sicheren Zufluchtsort gefunden hatte, beschrieb es anders. Adressiert an den Dogen erklärte er 1527, „Venedig umarmt alle, denen andere aus dem Weg gehen. Es erhebt jene, die von anderen erniedrigt werden. Es heißt jene willkommen, die andernorts verfolgt werden.“ Es gab allerdings auch Flüchtlinge, die aus anderen Gründen nach Venedig reisten als aus ökonomischen. Es herrschte eine Toleranz in dieser offenen Stadt, die anderen Regionen gänzlich unbekannt war. Darum wurde sie vom achtzehnten Jahrhundert an zu einer Bleibe für dienenigen, die der Schriftsteller Henry James die „Entthronten, die Besiegten, die Desillusionierten, die Verwundeten, oder sogar die Gelangweilten“ nannte. Die Entthronten waren eine sehr eigentümliche Besonderheit Venedigs. Viele der entthronten Prinzen Europas gingen hier ihrer Wege. Zu einem Zeitpunkt, im Jahre 1737, gab es gleich fünf vertriebene Monarchen in der Stadt, einer von ihnen der junge Charles Edward Stuart.

Es war auch ein Rückzugsort für die gebrochenen Geister, für Umherstreifende und Exilanten. Venedig wurde zur Heimat der Vertriebenen und Entwurzelten. Seine wässrige und melancholische Natur gefiel denen, die mit Kummer vertraut waren. Es wurde eine Bleibe für jene, die sich ihrer Herkunft oder ihrer Identität ungewiss waren und für jene, womöglich, die vor ihr zu entkommen wünschten. Die Stadt war fast mütterlich, endlos nahe und anschmiegsam. Es war ein Schoß der Sicherheit. Die Menschen waren bekannt für ihre Versöhnlichkeit und Höflichkeit. Venedig war eine Stadt für die Durchreise, in der man sich leicht im Gedränge verirrt haben mag, eine Stadt auf der Grenze zwischen verschiedenen Welten, in der jene, die in ihrer ursprünglichen Heimat nicht „angepasst“ waren, mit Nachsicht akzeptiert wurden… Es kamen auch Schwindler und Betrüger jeglicher Art her; sie waren gescheiterte Finanzkaufleute und Staatsmänner, bloßgestellte Frauen und Glücksritter, Alchemisten und Quacksalber. Die Wurzellosen wurden angezogen von der Stadt ohne Wurzeln.

Venedig war ebenfalls eine Grenze zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen, Katholizismus und Orthodoxie, dem Islam und dem Christentum. So zog es religiöse Reformatoren jeglicher Art an. Eine geheime Synode der Täufer wurde hier um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts errichtet, und die deutsche Gemeinde beherbergte viele Lutheraner unter sich. Venedig behielt immer seinen Abstand von Rom und beschützte die Unabhängigkeit seiner Kirche vor dem Papst; so wurde es, in der Theorie, zur Wettkampfanlage für religiöse Erneuerung. Es gab sogar eine Zeit, in der die englische Regierung die Republik für bereit hielt, mit der Reformation zusammenzuarbeiten. Dieser Punkt bewies sich natürlich als vollkommen irrig.

Wenn man versagt hatte, dann war Venedig ein guter Ort für einen, um sein Versagen zu vergessen. Hier war man isoliert von der Außenwelt, so dass ihre Verachtung oder auch ihre bloße Unachtsamkeit einen nicht länger verletzen konnte. Venedig stellte einen Ausweg aus der Modernität in all ihren Formen dar. Und, wie jeder Hafen, bot es Anonymität an. Wenn man ein Exilant war, konnte man in Venedig seine Identität ablegen; oder vielmehr, man konnte sich eine neue Identität aufbauen, die nur noch in Beziehung zur schwimmenden Stadt stand. Man konnte sich auch verflüchtigen. Sag mir, wer ich bin. Aber nicht, wer ich war.

Wir brauchen auch heute Städte wie Venedig.

[Aus dem englischen Originals Venice, city of refuge von Nathan Smith, ursprünglich erschienen auf openborders.info. Übersetzt von Alexander Mengden]