Hierbei handelt es sich um eine philosophische Argumentation für offene Grenzen basierend auf der Philosophie von John Rawls. Diese nutzt wesentlich sein Gedankenexperiment eines „Schleiers des Nichtwissens“. Nach der englischen Wikipedia:
Es handelt sich um eine Methode zur Bestimmung der Moral eines bestimmten Problems (bspw. Sklaverei), basierend auf folgendem Gedankenexperiment: Parteien in der „ursprünglichen Position“ wissen nichts über ihre einzelnen Fähigkeiten, Vorlieben und ihre Position innerhalb der sozialen Ordnung der Gesellschaft. Der Schleier des Nichtwissens verhüllt dieses Wissen, sodass man nicht weiß welche Bürden und Vorteile sozialer Kooperation erlangt werden sobald der Schleier einmal gelüftet ist. Mit diesem verhüllten Wissen müssen die Parteien in ihrer ursprünglichen Position über die Prinzipien entscheiden, wie die Verteilung der Rechte, Positionen und Ressourcen in der Gesellschaft gestaltet werden sollte. Wie Rawls es formuliert: „Niemand kennt seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klassenposition oder seinen sozialen Status; noch kennt man sein Los in der Verteilung natürlicher Anlagen und Fähigkeiten, der Intelligenz und Stärke und ähnlichem.“ Die Idee ist demnach die Infragestellung jener persönlichen Erwägungen, die moralisch irrelevant für die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Prinzipien zur Verteilung der Vorzüge sozialer Kooperation sind.
Eines der Probleme bei der rawlsschen Argumentation für offene Grenzen liegt darin, dass Rawls selbst daran gelegen war, seine moralische Analyse auf nationale Grenzen zu beschränken. Unabhängig davon gibt es jedoch keine speziellen Probleme bei der Anwendung von Rawls‘ Ansatz eines Schleiers des Nichtwissens auf einem universalistischen statt nationalem Level, auch wenn Rawls es selbst nicht getan hat.
In einem Aufsatz namens Aliens and Citizens: The Case for Open Borders versucht Joseph Carens Rawls‘ Rahmenwerk zur Bestimmung der Moral offener Grenzen anzuwenden. Ein wesentlicher Teil von Carens‘ Argumentation wird hier angeführt:
Im Gegensatz zu Nozick bietet John Rawls eine Rechtfertigung für einen aktiven Staat mit positiven Verantwortlichkeiten für die soziale Wohlfahrt. Die Anwendung auf Immigration, die durch „A Theory of Justice“ vorgeschlagen wird, lässt prinzipiell ebenso wenig Raum für Beschränkungen. Ich schreibe „vorgeschlagen wird“, weil Rawls selbst explizit ein geschlossenes System annimmt, in dem Fragen zur Immigration nicht entstehen können. Nichtsdestotrotz werde ich behaupten, dass Rawls‘ Ansatz in einem weiteren Kontext angewandt werden kann als er selbst in Erwägung zieht. Im Weiteren nehme ich eine generelle Kenntnis von Rawls‘ Theorie an, wiederhole knapp die Hauptpunkte und konzentriere mich dann auf die Themen, die relevant für meine Untersuchung sind.
Rawls fragt, welche Prinzipien Menschen zur Gestaltung der Gesellschaft wählen würden, wenn sie hinter einem Schleier des Nichtwissens wählen müssten, unabhängig vom Wissen über ihre persönliche Situation (Klasse, Rasse, Geschlecht, natürliche Talente, religiöse Überzeugungen, individuelle Ziele und Werte usw.). Er behauptet, dass Menschen in dieser ursprünglichen Position zwei Prinzipien wählen würden: Das erste Prinzip würde gleiche Freiheiten für alle garantieren, das zweite würde soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann zulassen, wenn diese zum Vorteil des am schlechtesten Gestellten (Differenzprinzip) und an Positionen gebunden sind, die für alle unter fairen Bedingungen gleicher Möglichkeiten offen sind. Menschen in der ursprünglichen Position würden das erste Prinzip priorisieren unter Ausschluss einer Reduzierung auf grundlegende Freiheiten zugunsten ökonomischer Gewinne.
Rawls zieht zudem eine Linie zwischen einer idealen und nichtidealen Theorie. In der idealen Theorie wird angenommen, dass selbst nach Lüften des Schleiers des Unwissens Menschen die gewählten Prinzipien akzeptieren und ihnen generell folgen würden und dass es keine historischen Hindernisse zur Realisierung gerechter Institutionen gibt. In der nichtidealen Theorie werden sowohl historische Hindernisse als auch ungerechte Handlungen anderer angenommen. Die nichtideale Theorie ist somit unmittelbar relevanter für praktische Probleme, wobei die ideale Theorie grundsätzlicher ist, indem sie das ultimative Ziel sozialer Reform und eine Basis zur Bewertung der relativen Bedeutung von Abweichungen von diesem Ideal bietet (bspw. die Priorität der Freiheit).
Wie eine Reihe anderer Kommentatoren möchte ich anführen, dass viele der Gründe, die die ursprüngliche Position nützlich zur Behandlung von Fragen über die Gerechtigkeit einer gegebenen Gesellschaft machen, ebenso zur Behandlung von Fragen über verschiedene Gesellschaften hinweg nützlich sind. Themen wie Migration und Handel, in denen Menschen jenseits staatlicher Grenzen interagieren, werfen Fragen über die Gerechtigkeit der Bedingungen dieser Interaktionen auf. Darüber hinaus fühlt sich jeder, der moralisch handeln möchte, verpflichtet, die Anwendung von Zwang gegenüber anderen Menschen zu rechtfertigen, unabhängig davon, ob diese Mitglieder der gleichen Gesellschaft sind oder nicht. Hierbei wollen wir nicht voreingenommen durch eigennützige oder parteiische Überlegungen sein und wir wollen uns nicht durch existierende Ungerechtigkeiten beeinflussen lassen. Ferner können wir es als eine grundlegende Voraussetzung betrachten, dass wir alle Menschen als freie und gleiche moralische Personen behandeln, nicht nur Mitglieder unserer eigenen Gesellschaft.
Die ursprüngliche Position bietet eine Strategie zur moralischen Schlussfolgerung, die bei der Behandlung dieser Bedenken hilft. Der Sinn des Schleiers des Unwissens ist es, „die Effekte bestimmter Eventualitäten, die Menschen in Widerspruch zueinander setzen, aufzuheben“, da natürliche und soziale Eventualitäten „von einem moralischen Gesichtspunkt aus willkürlich“ und daher Faktoren sind, die nicht die Wahl gerechter Prinzipien beeinflussen sollten. Ob jemand ein Bürger einer reichen oder armen Nation ist, ob jemand bereits ein Bürger eines bestimmten Staates ist oder ein Fremder, der Bürger werden möchte – dies sind mögliche Eventualitäten, die Menschen in Widerspruch zueinander setzen. Ein faires Verfahren zur Wahl gerechter Prinzipien muss daher Wissen über diese bestimmten Umstände ausschließen, ebenso, wie es Wissen über Rasse, Geschlecht oder soziale Klasse ausschließt. Wir sollten daher eine globale, nicht nationale, Sicht auf die ursprüngliche Position nehmen.
Jene in der ursprünglichen Position wären durch den Schleier des Nichtwissens ausgeschlossen vom Wissen über ihren Geburtsort oder ihre Mitgliedschaft in einer bestimmten Gesellschaft. Sie würden voraussichtlich dieselben beiden Gerechtigkeitsprinzipien wählen (unter der Annahme, dass Rawls‘ Argumentation für diese beiden Prinzipien korrekt ist). Diese Prinzipien würden global gelten und die nächste Aufgabe wäre die Schaffung von Institutionen zu ihrer Implementierung – immer noch aus der Perspektive der ursprünglichen Position. Würden diese Institutionen souveräne Staaten beinhalten, wie sie momentan existieren? In der idealen Theorie, in der wir historische Hindernisse und die Gefahren von Ungerechtigkeiten vernachlässigen können, würden einige Gründe zur Verteidigung der Integrität von existierenden Staaten verschwinden. Doch die ideale Theorie verlangt nicht die Eliminierung aller sprachlichen, kulturellen und historischen Unterschiede. Gehen wir davon aus, dass eine allgemeine Argumentation für eine Dezentralisation von Macht zur Respektierung dieser oder ähnlicher Faktoren die Existenz autonomer politischer Kommunen, vergleichbar mit modernen Staaten, rechtfertigen würde. Dies bedeutet nicht, dass alle existierenden Eigenschaften souveräner Staaten gerechtfertigt wären. Staatliche Souveränität wäre (moralisch) beschränkt durch die Prinzipien der Gerechtigkeit. Beispielsweise könnte kein Staat die religiöse Freiheit einschränken und Ungleichheiten zwischen Staaten wären durch ein internationales Differenzprinzip begrenzt.
Was wäre mit der Freizügigkeit zwischen Staaten? Wäre sie als eine grundlegende Freiheit in einem globalen System gleicher Freiheiten angesehen oder hätten Staaten das Recht zur ihrer Einschränkung? Selbst in einer idealen Welt hätten Menschen möglicherweise gute Gründe zur Migration von einem Staat in einen anderen. Ökonomische Möglichkeiten für einzelne Individuen könnten immer noch immens zwischen Staaten variieren, selbst wenn ökonomische Ungleichheiten durch ein internationales Differenzprinzip reduziert wären. Man verliebt sich in einen Bürger eines anderen Landes, man gehört einer Religion an, die größtenteils in einer anderen Nation angesiedelt ist, man sucht kulturelle Möglichkeiten, die nur in einer anderen Gesellschaft verfügbar sind. Im Allgemeinen muss man lediglich fragen, ob das Recht zur freien Migration innerhalb einer gegebenen Gesellschaft eine wichtige Freiheit darstellt. Dieselben Überlegungen machen die Migration über Staatsgrenzen hinweg wichtig.
Hinter dem Schleier des Nichtwissens, in Erwägung möglicher Freiheitsbeschränkungen, betrachtet man die Perspektive desjenigen, der durch diese Beschränkungen am stärksten benachteiligt wäre, in diesem Fall die Perspektive eines Fremden, der immigrieren möchte. In der ursprünglichen Position würde man daher darauf bestehen, dass das Recht zur Migration im System der grundlegenden Freiheiten aus den gleichen Gründen beinhaltet wäre, die für Religionsfreiheit sprechen würden: Es könnte sich als essentiell für die eigenen Lebenspläne herausstellen. Ist der Schleier des Nichtwissens erst einmal gelüftet, nimmt man dieses Recht möglicherweise nicht wahr, doch dies trifft für andere Rechte und Freiheiten ebenfalls zu. Folglich wäre die grundsätzliche Übereinkunft unter jenen in der ursprünglichen Position, dass Beschränkungen der Migration (ob Emigration oder Immigration) nicht gestattet sein dürften.
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[Übersetzung durch Achim Fischbach von: Rawlsian Case For Open Borders, zuerst erschienen auf openborders.info.]