Sowohl für Befürworter als auch Gegner von offenen Grenzen ist von Interesse, was denn bei offenen Grenzen passieren würde. Das Mindeste wäre hier zu wissen, wieviele Menschen denn überhaupt wandern würden. Eine Vorhersage ist dabei allerdings alles andere als einfach, weil diverse Einflußgrößen in Betracht zu ziehen sind, die zudem noch miteinander in Wechselwirkung stehen können.
Etwa gibt es unterschiedliche Gründe, die Menschen zur Auswanderung antreiben (Push-Faktoren) oder eine Einwanderung interessant machen (Pull-Faktoren). Zur ersten Gruppe gehören beispielsweise Vertreibungen, Kriege und Bürgerkriege oder Regime, die die Bevölkerung unterdrücken. Motivationen für Einwanderung können absolute oder relative Unterschiede in der Entlohnung und Unterstützung, Möglichkeiten zur Weiterbildung, kulturelle Affinität und familiäre Bindungen sein oder einfach Abenteuerlust und Spaß an Veränderung. Umgekehrt sprechen je nachdem sprachliche oder kulturelle Gründe auch gegen eine Einwanderung, während viele Landsleute vor Ort diese erleichtern. Auswanderung wirkt wiederum auf die Herkunftsländer zurück, etwa durch Überweisungen in das Herkunftsland und technologische Transfers, was die weitere Auswanderung beeinflussen kann. Und dann gibt es unterschiedliche Fälle, ob ein einzelnes Land oder eine Gruppe von Ländern ihre Grenzen öffnet oder gemeinsam alle Länder weltweit, ob die Grenzen auf einmal aufgehen oder nur allmählich.
Da bereits bei den einzelnen Einflüssen große Unklarheit herrscht und noch mehr bei ihrem Zusammenwirken, kann man keine exakten Schätzungen erwarten mit Einwandererzahlen bis auf die Nachkommastellen. Hierzu müßte man ja zusätzlich noch fast alles über eine Welt wissen, die auch in anderen Hinsichten anders wäre als die heutige. Aber immerhin kann man versuchen, eine grobe Größenordnung für die zu erwartenden Wanderungsströme herzuleiten.
Dies soll in einer Serie von Artikeln angegangen werden. Vieles dabei mag verbesserungsfähig sein, aber irgendwo muß man ja anfangen. Der Plan ist hierbei der folgende:
Im ersten Artikel sollen zunächst einige allgemeine Überlegungen angestellt werden, warum man mit sehr hohen Zahlen von Wandernden rechnen kann oder aber auch mit eher niedrigen. Als erster Pfosten eines Scheunentors soll dann auf der einen Seite die sicherlich zu hohe Schätzung diskutiert werden, daß alle Bewohner ärmerer Länder, etwa sechs Milliarden Menschen, in die reichen Länder kommen. Auf der anderen Seite steht die zu niedrige Schätzung, daß sich gegenüber dem heutigen Zustand fast nichts ändern würde. Wie bereits angedeutet, sind die beiden Schätzungen von vornherein unplausibel. Es lohnt sich aber dennoch, darüber nachzudenken, warum das so ist.
Im nächsten Artikel soll es darum gehen, sich historische Beispiele anzuschauen. Schließlich gab es, auch wenn viele das vergessen haben, ja schon einmal eine Welt mit fast völlig offenen Grenzen, nämlich im 19. Jahrhundert. Allerdings muß man dabei im Auge behalten, daß sich seitdem einiges verändert hat: Mit Leichtigkeit kann jemand heute per Google Steetview bereits in einem anderen Land herumspazieren und sich über das Internet vielfältige Information beschaffen. Und auch die Kosten für den Transport sind heute wesentlich niedriger als im 19. Jahrhundert. Auf der anderen Seite erfordert eine Einwanderung mittlerweile mehr an Aufwand, etwa für bürokratische Formalitäten wie bei der Eröffnung eines Kontos oder beim Abschluß eines Miet- und Arbeitsvertrags.
Im dritten Artikel der Serie soll deshalb auf aktuelle Beispiele eingegangen werden. In Frage kommen hier Fälle von weitgehend offenen Grenzen, etwa im Schengenraum oder zwischen Indien und Nepal, sowie die Erfahrung mit interner Wanderung insbesondere in großen Ländern wie China oder Indien. Auch nur mäßig offene Grenzen können einen Anhaltspunkt bieten, was bei einer weiteren Öffnung passieren mag. Und dann kann man die Menschen auch direkt fragen, was sie gerne machen wollen, wie es etwa Gallup recht regelmäßig in weltweiten Umfragen tut.
Schließlich sollen dann die Ergebnisse zusammengetragen und gewertet werden, um zu einer Einschätzung der ungefähren Größenordnung zu gelangen, wieviele Menschen unter offenen Grenzen wohl wandern würden.