Tag Archives: visa

Der Führer der Nationalliberalen gegen Abschiebungen

Am 30. September 1867 kommt das vom Bundeskanzler Otto von Bismarck eingebrachte Gesetz über das Paßwesen im Reichstag des Norddeutschen Bundes zur Debatte, das Pässe und Visa sowohl für Inländer als auch Ausländer abgeschaffen soll. Das Gesetz ist wenig umstritten. So wird die Beseitigung der Paßpflicht für Ausländer ohne Debatte sofort angenommen.

Allerdings geht das Gesetz den Parteien der Linken nicht weit genug. So bringt der Abgeordnete der Deutschen Fortschrittspartei Julius von Kirchmann ein Amendement (Verbesserung des Gesetzes) ein, das die Praxis willkürlicher Ausweisungen von Bürgern des Norddeutschen Bundes durch die Polizei, wie sie in Preußen nicht selten vorkommen, beenden soll (Nr. 35 der Reichstagsdrucksachen):

Der Reichstag wolle beschließen:

im § 10 hinter Alinea 4 nachstehendes Alinea 5 hinzuzufügen:

Polizeiliche Ausweisungen und Untersagungen des Aufenthalts an irgend einem Orte des Norddeutschen Bundes sind gegen Angehörige desselben nur zulässig auf Grund gerichtlicher Erkenntnisse, welche dazu ermächtigen, oder, wenn der Betreffende die öffentliche Unterstützung in Anspruch nimmt, nach näherer Bestimmung der Gesetze über die Armenpflege.

Alle dem entgegenstehenden Privilegien einzelner Ortschaften werden hiermit aufgehoben.

von Kirchmann.

Zu beachten ist dabei, daß es zu diesem Zeitpunkt nur um die Abschaffung von Pässen und Visa geht. Die Freizügigkeit wird erst in einem zweiten Schritt durchgesetzt, welche Beschränkungen aufgrund der „öffentlichen Unterstützung“ ebenfalls abschafft und auch von der Deutschen Fortschrittspartei unterstützt wird. Die Einschränkung im Antrag dient nur dazu, die beiden Fragen nicht an dieser Stelle zu verquicken.

Der Abgeordnete der demokratischen und großdeutschen Sächsischen Volkspartei (und spätere Führer der Sozialdemokraten) Wilhelm Liebknecht möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und auch die Ausweisung von Ausländern mit denselben Ausnahmen unmöglich machen. Sein Amendement lautet (Nr. 39 der Reichstagsdrucksachen):

Der Reichstag wolle beschließen:

im Abänderungs-Vorschlage des Abgeordneten von Kirchmann (Nr. 35) die Worte:

“gegen Angehörige desselben”

(in der 3. Zeile des Vorschlags) zu streichen.

Liebknecht.

Es kommt nun zu einer Debatte, bei der von Kirchmann und Liebknecht ihre Amendements begründen. Nach ihnen erhebt sich der Führer der Nationalliberalen Eduard Lasker und befürwortet sowohl das Amendement Kirchmann als auch das Unter-Amendement Liebknecht mit diesen Worten:

Abgeordneter Lasker: Meine Herren! Ich werde Ihnen für Ihre Freundlichkeit mit recht kurzen Worten danken. Ich will sowohl das Amendement des Abgeordneten v. Kirchmann wie auch das Unter-Amendement, welches der Abgeordnete Liebknecht dazu gestellt hat, befürworten, und sehe mich noch ganz besonders veranlaßt, das letztere zu befürworten, weil der Herr Abgeordnete Liebknecht am Schlusse seiner Rede auf ein Gebiet sich verirrt hat, das mit dem gegenwärtigen Gesetz nicht im Zusammenhange steht, und das gegen sein Unter-Amendement vielleicht ein gewisses Vorurtheil hervorgerufen hat. Meine Herren, nach den Preußischen Gesetzen oder vielmehr nach den Preußischen Gewohnheiten — denn ein Ausweisungsrecht besteht in Preußen überall nicht — ist die Praxis der polizeilichen Ausweisungen an die Aufenthalts-Karten geknüpft worden. In einer Instruction des Ministers des Innern — ich glaube, sie rührt aus dem Jahre 1851 her — deducirt dieser: Weil die Fremden Aufenthalts-Karten nehmen müssen, so folge daraus, die Polizei könne die Aufenthalts-Karten verweigern, folglich auch die Fremden ausweisen, was gleichbedeutend sei mit der Verweigerung der Aufentha[l]ts-Karten. Diejenigen also, welche meinen, daß die Materie dem gegenwärtigen Paßgesetze fremd sei, sind nicht richtiger Ansicht. An der Stelle, wo die Gewährung der Aufenthalts-Karten aufgehoben wird, paßt es auch, die falsche Praxis der Polizei gesetzlich aufzuheben.

Das Amendement Liebknecht rechtfertigt sich meiner Ansicht nach ganz von selbst, ohne daß man gerade großdeutsche Gelüste damit in Verbindung zu bringen braucht; es rechtfertigt sich dadurch, weil es eine Art Barbarei ist, in dem gastlichen Rechte des Aufenthalts einen Unterschied zu machen zwischen Ausländern und Einheimischen. Nicht nur jeder Deutsche, sondern jeder Mensch hat das Recht, nicht wie ein Hund weggejagt zu werden. Da nun die gegenwärtige Regierung in Preußen, wie sie durch ihre Vertreter mehrfach hervorgehoben hat, daß sie die polizeiliche Praxis nicht liebt, der Mißbrauch der Ausweisungen aber, der in Preußen zu Tausenden gehandhabt worden ist, nur auf polizeilicher Praxis beruht, so dürfen wir auf ihre Zustimmung rechnen. Benutzen wir daher die erste Gelegenheit, den Mißbrauch abzuschaffen. Ich empfehle Ihnen dringend das Amendement Kirchmann nebst dem Unter-Amendement Liebknecht.

Die Nationalliberalen folgen aber ihrem Führer hierin nicht. Sowohl das Amendement Kirchmann als auch das Amendement Liebknecht werden vom Reichstag abgelehnt.

Keine Pässe, keine Visa – welches Land macht denn sowas?

Ein kleines Ratespiel. Das Land, um das es geht, hat ein Gesetz erlassen. Der erste Paragraph des Gesetzes sichert jedem Bürger zu, daß er weder beim Verlassen noch bei der Wiedereinreise und natürlich erst recht nicht beim Reisen innerhalb des Landes ein Reisepapier braucht.

Da es andere Länder gibt, die ein Reisepapier verlangen, hat jeder mit geringen Auflagen ein Anrecht, ein Reisepapier ausgestellt zu bekommen, wofür aber höchstens ein mäßiger Betrag als Gebühr verlangt werden darf.

Doch es kommt noch verrückter: Im zweiten Paragraphen des Gesetzes wird sogar allen Ausländern — ja, allen! — zugesichert, daß sie weder bei der Einreise, der Ausreise noch beim Aufenthalt im Land ein Reisepapier benötigen. Sie müssen sich nur, wie auch die Bürger, auf amtliches Verlangen hin über ihre Person ausweisen können. Niemand braucht zudem Reisepapiere vorlegen, um ein Visum zu bekommen.

Diese völlige Abschaffung aller Reisepässe und Visa kann nur unter ganz besonderen Umständen und vorübergehend ausgesetzt werden, etwa während eines Krieges oder bei Unruhen.

Welches Land macht denn sowas?

Am 17. September 1867 „beehrt sich“ der Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes Otto von Bismarck, dem Norddeutschen Reichstag ein „Gesetz über das Paßwesen“ zur Annahme „ganz ergebenst vorzulegen.“ Das Gesetz wird in nur wenig veränderter Form mit großer Zustimmung vom Reichstag angenommen.

„Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen“ verfügt das Gesetz dann „[u]rkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Bundes-Insiegel“ am 12. Oktober 1867. In Kraft tritt es per 1. Januar 1868. Mit der Reichsgründung 1871 wird die Geltung des Gesetzes auf ganz Deutschland ausgeweitet.

Das „Gesetz über das Paßwesen“ kommt dabei nicht aus heiterem Himmel. In der „Dresdner Konvention“ vom 21. Oktober 1850 ist bereits die Visumspflicht innerhalb Deutschlands abgeschafft worden. Im Jahr 1859 schließt sich Österreich-Ungarn dem Abkommen an. Allerdings benötigt man zum Reisen noch eine „Paßkarte“.

Am 7. Juli 1865 machen Bayern, Sachsen, Hannover und Württemberg den nächsten Schritt und schaffen Paßpflicht und alle Visa ab — auch für Ausländer. Dem schließen sich bald andere deutsche Staaten an. Der Norddeutsche Bund vollzieht dies dann zwei Jahre später nach. Allerdings ist Deutschland hier eher ein Nachzügler. Die Schweiz und Schweden haben Paßpflicht und Visa schon längst für alle Länder abgeschafft, Frankreich, Belgien und die Niederlande für andere Länder auf Gegenseitigkeit.

Aufschlußreich für den liberalen Geist der Zeit ist die Begründung in den Motiven zum „Gesetz über das Paßwesen“. Diese hält sich nicht lang mit Argumenten auf:

„[N]ach den Ansichten, welche in neuerer Zeit allgemein über diesen, einen großen Theil der Bevölkerung nahe berührenden Gegenstand sich geltend gemacht haben, werden weder die gleichmäßige Regelung des Paßwesens für das ganze Gebiet des Bundes durch ein Bundesgesetz, noch auch diejenigen Grundsätze einer besonderen Rechtfertigung bedürfen, von welchen allein bei dem Erlaß eines solchen Gesetzes ausgegangen werden kann. Es darf die freie Bewegung des unverdächtigen Reisenden nicht durch Maßregeln gehemmt und gestört werden, welche keinen anderen Zweck haben, als den Verdächtigen auf die Spur zu kommen, deren Anzahl gegen die stets wachsende Zahl der Reisenden überhaupt doch immer nur verschwindend klein ist; es mußte namentlich davon ausgegangen werden, daß der Paßzwang, welcher seit der außerordentlichen Vermehrung des Reiseverkehrs ohnehin nicht mehr durchführbar war, auch gesetzlich aufzuheben sei.“

Pässe und Visa seien sowieso überflüssig, so führen die Motive weiter aus:

„Bei der Beurtheilung des Entwurfs im Allgemeinen ist zunächst der Zweck desselben ins Auge zu fassen, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß durch die darin bundesgesetzlich ausgesprochene Aufhebung des Paßzwanges weder die Wirksamkeit der Polizei bei der Verfolgung wirklich gefährlicher Individuen beeinträchtigt, noch auch andere dem Paßwesen verwandte Institute, welche aber einen anderen Zweck verfolgen, beseitigt werden sollten. Der Entwurf bezweckt, den gewöhnlichen Reiseverkehr von den Unbequemlichkeiten und Belästigungen des Paßzwanges zu befreien. Niemand soll verpflichtet sein, bloß aus dem Grunde, weil er seinen gewöhnlichen Wohnort verläßt, sich mit Legitimationspapieren zu versehen und solche auf der Reise den verschiedenen Polizeibehörden zum Visiren vorzulegen.“

Die einzige Ironie des „Gesetzes über das Paßwesen“ ist nur, daß es ausgerechnet von Otto von Bismarck vorgelegt wird, der knapp zwanzig Jahre später daran gehen wird, die Grenzen wieder zu schließen und damit eine Entwicklung einleitet, die zu den späteren Zuständen mit „Unbequemlichkeiten und Belästigungen“ geführt hat.

Deutschland war also schon mal weiter. Und leider marschiert Bayern nicht mehr an der Spitze des Fortschritts. Aber die Geschichte ist ja noch nicht zuende.