Ein Einwand gegen offene Grenzen lautet etwa so: Wenn in einem Land etwas schiefläuft, dann ist es die Pflicht der dortigen Bürger, dies zu korrigieren. Bei offenen Grenzen könnten sie dieser Pflicht aber ausweichen. Damit wird Druck von den Machthabern genommen, etwas zu ändern. Und das ist zum Schaden derjenigen, die im Land bleiben. Geschlossene Grenzen sind von daher wünschenswert, weil sie den Druck erhalten und so letztlich zu einer Verbesserung der Lage führen.
An einem solchen Argument ist einiges falsch. In dem Artikel „Sollten Auswanderer zuerst die Probleme in ihrem Land lösen?“, einer Übersetzung eines Blogposts von Bryan Caplan, haben wir beleuchtet, was für eine Zumutung eine solche Forderung an Menschen ist, die sich einer gefährlichen politischen Lage gegenübersehen. Auch die Metaphorik von „Druck erhalten“ oder „Druck nehmen“ verrät eine Auffassung von Menschen, deren Zweck es ist, wie Moleküle in einem Gas mal mehr, mal weniger zusammengepreßt zu werden, um irgendeine Maschine zu betreiben. Kants Diktum, daß man Menschen nicht nur als Mittel ansehen darf, scheint hier vergessen zu sein.
Doch ist überhaupt die Vermutung richtig, daß geschlossene Grenzen Wandel in korrupten, autoritären oder sogar totalitären Ländern herbei“drücken“ können? Grundsätzlich kann man dem Argument vielleicht eine gewisse Plausibilität zugestehen. Denkbar ist das. Doch wenn man sich ein paar historische Beispiele anschaut, dann offenbart sich, wie lachhaft eine solche Behauptung ist, wenn sie pauschal und ohne Qualifikation aufgestellt wird.
Wie wäre denn etwa die Analyse zu werten, daß Juden, die vor den Nationalsozialisten flüchten mußten, besser zuhause geblieben wären, weil das zu einer schnelleren Änderung des Systems geführt hätte? Hätten die Norweger Willy Brandt nach Deutschland zurückschicken sollen, um so den Druck auf die Nationalsozialisten hochzuhalten? War es sogar eine Schädigung der anderen Deutschen, Flüchtlinge aufzunehmen?
Auch ein anderer Teil der deutschen Geschichte läßt Zweifel aufkommen, wie schlüssig das physikalische Argument für gesellschaftliche Veränderung ist. Konsequent durchdacht hätte in diesem Sinne nicht die DDR ihre Grenzen dichtmachen sollen, sondern die Bundesrepublik zum Guten der dortigen Bevölkerung. Daß es umgekehrt kam, zeigt bereits, daß die DDR-Führung sich vom Mauerbau 1961 keineswegs eine Erhöhung des Drucks im Innern, sondern eine bessere Kontrolle versprach. Ohne die Perspektive, mit den Füßen gegen das Regime abstimmen zu können, hatte der Arbeiterbonzenstaat viel weniger zu befürchten, weil seine Untertanen ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Gerade die Phase nach dem Mauerbau stellte sich deshalb, wie gewünscht, als Stabilisierung des Regimes heraus.
Es ist auch instruktiv zu betrachten, wann das Regime in der DDR unter besonderem Druck stand. Als die Menschen 1953 am 17. Juni auf die Straßen gingen, um gegen die Politik der Regierung zu protestieren, Freiheit und ehrliche Wahlen zu fordern, da hatten sie die Alternative, wenn es zu schlimm würde, in den Westen zu fliehen. Wäre es mitfühlend und hilfreich gewesen, sie daran von der westlichen Seite zu hindern? Wohl kaum. Gerade weil die Möglichkeit bestand, sich dem Regime zu entziehen, wurde ein Protest leichter. Wie die Ereignisse der Zeit zeigten, konnten nur die sowjetischen Panzer die DDR noch zusammenhalten.
Und auch der Niedergang der DDR hatte etwas mit Grenzen und ihrer Durchlässigkeit zu tun. Die Öffnung der Mauer am 9. November 1989, ja schon die Öffnung der ungarischen Grenzen früher im Jahr, war das Todesurteil für das realsozialistische Regime. In ihren letzten Jahren hatten die Oberen der DDR bereits mit einem vermeintlichen Schachzug versucht, sich ihrer Opposition durch leichtere Ausreise zu entledigen. Allerdings hatte das die weniger geplante Folge, daß Opposition ab da nicht mehr mit der völlig hoffnungslosen Perspektive einherging, den Rest seines Lebens in einem DDR-Gefängnis zu verbringen. Wiewohl die humanitären Freikäufe durch die Bundesrepublik den Nachteil hatten, einem bankrotten Regime Mittel durch dessen Menschenhandel zuzuführen, hätte man sie nicht geschickter einrichten können, um den Druck auf die Opposition in der DDR zu vermindern. Netto erwies sich der große Wurf für die DDR-Führung als der mit einem Bumerang.
Ich kann mir durchaus vorstellen, daß es auch Situationen geben kann, in denen die „Druck-Theorie“ durch geschlossene Grenzen funktionieren könnte, mal abgesehen von dem zynischen Umgang mit den Beteiligten. Allerdings tue ich mich schwer, dafür ähnliche Beispiele wie die, die ich angeführt habe, zu finden. Mir erscheint es eher so, als wenn offene Grenzen und die damit verbundene Möglichkeit, mit den Füßen abzustimmen, eine viel größere Bedrohung für korrupte und diktatorische Regime sind als eine eingesperrte Bevölkerung, die ihnen nicht ausweichen kann.
Als Vertreter von offenen Grenzen sollte man deshalb nicht über Bord gehen. Auch größere Freizügigkeit ist kein Wundermittel, wie etwa das Beispiel Kuba zeigt, das sich seiner Opposition relativ erfolgreich durch Ausreise entledigen konnte. Aber ein guter Grund für geschlossene Grenzen ist es deshalb noch lange nicht, darauf zu verweisen, daß auch offene Grenzen ein schädliches Regime nicht in jedem Fall beseitigen können. Wer mit der Erhaltung von Druck für geschlossene Grenzen wirbt, der sollte sich wenigstens die Mühe machen, einmal zu begründen, wieso er sich davon so viel verspricht. Wo sind hier die schlagenden Beispiele? Warum muß man mit einer Destabilisierung und nicht einer Stabilisierung der betreffenden Staaten rechnen? Und hat man selbst dann das Recht, Menschen zwangsweise in ein Land zu pressen oder dort eingepreßt zu halten?