In einem von Jung & Naiv aufgenommenen Video von einer Pressekonferenz, das auf Facebook zurzeit viel geteilt wird, fragt Gregor Gysi:
„Was machen wir; soll ich es Ihnen einmal sagen? Wir sagen, wir brauchen Fachkräfte, weil es ja zu wenig Deutsche gibt, die holen wir uns aus der Dritten Welt. Ist das richtig, Fachkräfte aus der Dritten Welt mit Geld abzuziehen? Vielleicht brauchen die ihre Fachkräfte selbst. Verstehen Sie, das ist nämlich das Problem!“
Vielleicht sollte man erst einmal klarstellen, dass bei gewöhnlicher Arbeitsmigration niemand aus seinem Herkunftsland einfach „abgezogen“ oder „abgeholt“ wird wie ein Paket oder eine Frachtladung. Wovon die Rede ist, das sind Menschen, die in Entwicklungsländern geboren wurden und wegen ihrer Ausbildung zu den einigen Glücklichen in ihrem Land gehören, die in Europa eine Erlaubnis kriegen, zu vielfach höheren Löhnen als in ihrer Heimat arbeiten zu können. Sie entscheiden sich aus eigenem Willen, diese Möglichkeit zu nutzen, weil sie darin eine Chance sehen. Unternehmen hier in Europa, die diese Leute in ihrem Betrieb gut gebrauchen können, bieten ihnen Arbeitsstellen an. Dabei wird niemand einfach an einen anderen geographischen Ort geschoben, sondern beide Seiten haben sich darauf geeinigt, weil sie sich davon eine Verbesserung ihrer Situation erhoffen.
Wie schlägt Gysi nun vor, solle Europa aufhören, diese Fachkräfte anzuwerben? Dies geht offenbar nur, indem man noch mehr Menschen als bisher erklärt: „Ihr dürft hier nicht arbeiten.“ und Unternehmen in Europa verbietet, ausländischen Fachkräften aus Entwicklungsländern eine Arbeit anzubieten. Während sich das vielleicht etwas freundlicher anhört als „Arbeit nur für Deutsche!“ (oder hier eben EU-Bürger) münden diese Forderungen in ziemlich ähnlichen gesetzlichen Vorschriften. Das ist nicht nur eine autoritäre Haltung gegenüber Menschen in Europa, die demnach nicht vom Austausch mit ausländischen Arbeitsmigranten profitieren sollen, sondern auch gegenüber den Menschen aus Entwicklungsländern, die durch eigene Arbeit ihr Leben verbessern wollen. Nur einigen wenigen ist das überhaupt gesetzlich erlaubt. Wenn es nach Gysi ginge, würde man allen Menschen in Entwicklungsländern diese Chance nehmen.
Selbsteigentum oder Staatseigentum: Dürfen Staaten ihre Bürger einsperren?
Nun mag man tatsächlich der Überzeugung sein, dass durch die Auswanderung von gut ausgebildeten Fachkräften ein Talentschwund (Brain-Drain) in deren Herkunftsländern entsteht und diesen dadurch ökonomisch schade.
Ein gutes Beispiel für diesen Fall stellen die ehemalige Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten dar. Dort wollten viele Menschen vor den repressiven Sowjet-Regimes und der Armut in ihrer Heimat in den Westen fliehen, wo sie sowohl mehr Wohlstand als auch mehr individuelle Freiheit hätten genießen können. Die jeweilige politische Führung verbot aus denselben Befürchtungen vor einer Abwanderung von Fachkräften ihren Bürgern die Ausreise und verhinderte eine Abwanderung durch den Eisernen Vorhang; daher waren sie gezwungen, unter diesen Regimes und den schlechten Lebensbedingungen, die die dortigen Planwirtschaften boten, weiterzuleben.
Waren diese Ausreiseverbote richtig? Wenn nicht, wie können wir heute die selben Gründe anführen um Menschen in ihren Ländern einzusperren und uns dabei für etwas großartig besseres halten?
Gerade von denjenigen, die selbst einmal zur Adelsschicht eines solchen Regimes gehörten und immer noch unter einer gewissen DDR-Nostalgie leiden, sollte man eigentlich erwarten, dass sie für Vorschläge dieser Art eine gewisse Sensibilität entwickelt hätten.
Für das moralische Argument gegen solche Maßnahmen ist entscheidend, ob man anerkennt, dass Menschen grundsätzlich sich selbst gehören und über ihr eigenes Leben entscheiden dürfen; oder ob man sie als Ressourcen betrachtet, über die ihr Staat nach eigenem Gutdünken verfügen darf. Wenn man das Selbsteigentum dieser Menschen anerkennt, dann ist klar, dass nicht nur die wenigen davon, die bereits heute Erlaubnis dazu haben, sondern jeder Mensch sich dazu entscheiden darf, ob er in Europa sein Glück suchen möchte.
Brain-Drain: Schaden oder Nutzen für die Dritte Welt?
Wenn man dagegen denkt, dass diese Menschen dazu kein Recht haben, oder dieses zumindest stark eingeschränkt werden darf, wenn es dem staatlichen Nutzenkalkül zuwiderläuft, stellt sich die Frage, ob dieser Brain-Drain ihrem Herkunftsland tatsächlich einen Schaden zufügt, der solche Einschränkungen rechtfertigt, oder möglicherweise sogar einen Nutzen.
Dazu ist erst einmal zu sagen, dass es sich bei Brain-Drain eher um ein Phänomen beschränkter Einwanderung handelt als um eines von offenen Grenzen. Denn gerade dann, wenn nur wenigen Fachkräften erlaubt ist, in einem anderen Land eine höher bezahlte Arbeit anzunehmen, dann wandern auch nur die am besten ausgebildeten Arbeitskräfte ab, während alle anderen in ihrer Heimat bleiben müssen. Dagegen ist unter einer Ordnung offener Grenzen, unter der jeder überall eine Arbeit annehmen darf, die Verteilung derjenigen, die diese Chance nutzen, viel gleichmäßiger, weil nicht mehr selektiv die Leistungselite eines Landes emigriert.
Wesentlich eindrucksvoller als man vielleicht erwarten würde, ist das, was Migranten, die in einem fremden Land arbeiten, für ihre Heimat leisten. Im Moment darf, wie bereits erwähnt, nur ein sehr kleiner Anteil derjenigen, die gerne in einem anderen Land eine Arbeit annehmen würden, diesen Wunsch tatsächlich in die Wirklichkeit umsetzen. Trotzdem unterstützen diejenigen Arbeitsmigranten selbst unter den heutigen Bedingungen ihre Familien in ihrer Heimat mit jährlich über 385 Milliarden Euro an Geldrücksendungen; das ist mehr als das dreifache sämtlicher Mittel, die für staatliche und private Entwicklungshilfe zusammen aufgewendet werden! Das macht Arbeitsmigration zum weltweit erfolgreichsten Programm gegen Armut.
Nach den Erwartungen der Weltbank wird diese Summe jährlicher Geldrücksendungen im Jahr 2016 auf 455 Milliarden ansteigen. Der Grund, weshalb der positive Einfluss dieser Rücksendungen deutlich größer ist als die Nachteile, die die Herkunftsländer durch die Abwanderung der Fachkräfte erfahren, liegt darin, dass die Arbeitsmigranten in entwickelten Industrienationen in Europa oder Nordamerika um ein vielfaches produktiver sind als in ihrer Heimat. Hier können sie ihr Potential besser entfalten und deshalb Löhne verdienen, die um ein vielfaches höher sind als das, was sie in ihrem Herkunftsland je bekommen könnten.
Das alles sind Gründe, weshalb wir nicht die wenige bestehende Arbeitsmigration verbieten, sondern sie drastisch ausweiten sollten! Denn damit verbessern wir enorm das Leben vieler Menschen in Entwicklungsländern und als netten Nebeneffekt auch unser eigenes; denn auch wir profitieren von Menschen, die hier ihr volles Potential ausschöpfen und Dinge produzieren, die wir gebrauchen können. Außerdem ist es der einzige Weg, der damit vereinbar ist, Menschen als Selbsteigentümer zu behandeln, die über ihr eigenes Leben bestimmen dürfen und nicht als Objekte, die dem Staat gehören, in dessen Territorium sie geboren wurden.
Einwanderung oder Entwicklungshilfe?
Gregor Gysi möchte diese wunderbare, für alle Seiten gewinnbringende Entwicklung nicht verwirklicht sehen, sondern sogar die bestehenden Ansätze auf null zurückfahren. Stattdessen schlägt er vor, den Umfang staatlicher Entwicklungshilfe auszuweiten und zu „verbessern“, obwohl diese für Entwicklungsländer bereits bloß von der Geldsumme ausgehend nur Bruchteil von dem leisten kann, was Arbeitsmigration schon im Moment schafft; von den Möglichkeiten, die sich durch eine vollkommene Öffnung für Arbeitsmigration bieten, ganz zu schweigen.
Ob solche Entwicklungsgelder den Ländern, die sie erhalten, überhaupt helfen, ist nicht umsonst stark umstritten. Nicht wenige Entwicklungsökonomen plädieren deshalb sogar dafür, diese Form vermeintlicher Unterstützung ganz abzuschaffen. Gysi merkt richtigerweise, wenn auch verkürzt, Schwachstellen deutscher Entwicklungspolitik an; die Geldervergabe anderer Länder steht allerdings nicht weniger in der Kritik. Es ist zumindest sehr fraglich, ob die „Linkspartei“ ein Instrument, dessen positive Wirkung grundlegend zweifelhaft ist, zu einer Wunderwaffe umfunktionieren kann.
Obwohl die Geldmittel, die die Bundesrepublik und andere Staaten für Entwicklungshilfe ausgeben, oft stark überschätzt werden, ist nicht zu leugnen, dass es sich dabei volkswirtschaftlich trotzdem um einen gewissen Verlust für die Gebernation handelt. Dagegen stellt Arbeitsmigration auch einen eindeutigen Gewinn für das Einwanderungsland dar. Denn an Menschen, die bereit sind, mit anzupacken, gibt es niemals zu viele. Wir können nicht nur den Wegfall vieler Arbeitnehmer ausgleichen, die in Europa ins Rentenalter kommen, sondern auch neue Unternehmungen umsetzen, die erst mit diesem Mehr an Arbeitskräften überhaupt denkbar sind.
Feindbild Arbeitsmigrant: Keine Sympathie mit dem Wirtschaftsflüchtling?
Während das Video mit dieser Passage auf Facebook viral geteilt wurde, ist keine Kritik an Gysi laut geworden. Jedenfalls nicht so laut, dass sie neben dem Applaus für ihn irgendwie bemerkbar wäre. Wie kommt es eigentlich, dass sich niemand darüber aufregt, wenn sich linke Politiker für solche Vorschläge aussprechen, die man eigentlich eher von politisch rechter Seite erwarten würde? Ich neige dazu, die Einschätzung zu teilen, die Hansjörg Walther in einem anderen Beitrag auf diesem Blog geäußert hat: dass die „Linkspartei“ gar nicht unbedingt für offene Grenzen eintritt, sondern sich damit begnügt, sich mit Sympathiebekundungen für unterprivilegierte Ausländer ein menschlicheres Antlitz zu geben; und das scheint auch gut zu funktionieren.
Dabei zeigt sich ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Einwanderung, wenn Flüchtlinge mit offenen Armen willkommengeheißen werden, aber gleichzeitig Menschen, die zwar keinen Anspruch auf Asyl erheben, aber trotzdem nach Europa kommen wollen um nach einem Leben in Freiheit und Wohlstand streben, dies verweigert werden muss.
Arbeitsmigration ist bereits jetzt das weltweit erfolgreichste Programm gegen Armut und könnte noch deutlich mehr leisten, wenn man nicht nur selektiv wenige Fachkräfte, sondern jeden in Europa eine Arbeit annehmen ließe. Dabei wäre von den Einwohnern der Einwanderungsländer nicht verlangt, dass sie sich für die Einwanderer aufopfern und auch Solidaritätsbekundungen sind dazu nicht notwendig.Arbeitsmigranten sind Menschen, die sich ungehindert von staatlichen Bürokraten durch eigene Arbeit ein besseres Leben aufbauen wollen und dazu verlangt nichts nach politischen Wohl- oder Übeltätern, die sich um sie kümmern.
Es gibt verschiedene systematische Gründe für linke Ressentiments gegen Arbeitsmigration, aber ihnen allen ist gemein, dass sie zu einem tiefen Konflikt zwischen eigener Selbstbild und Selbstdarstellung einerseits und dem politischem Programm andererseits führen. Denn wer die ökonomisch schwächsten Menschen in der Dritten Welt festhalten und verhindern will, dass sie in Europa für sich selbst und andere ein besseres Leben aufbauen, der kann sicherlich keine „Solidarität“ oder „Verantwortung“ gegenüber ihnen reklamieren.
Foto: Armin Kübelbeck, CC BY-SA 3.0
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