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Der Führer der Nationalliberalen gegen Abschiebungen

Am 30. September 1867 kommt das vom Bundeskanzler Otto von Bismarck eingebrachte Gesetz über das Paßwesen im Reichstag des Norddeutschen Bundes zur Debatte, das Pässe und Visa sowohl für Inländer als auch Ausländer abgeschaffen soll. Das Gesetz ist wenig umstritten. So wird die Beseitigung der Paßpflicht für Ausländer ohne Debatte sofort angenommen.

Allerdings geht das Gesetz den Parteien der Linken nicht weit genug. So bringt der Abgeordnete der Deutschen Fortschrittspartei Julius von Kirchmann ein Amendement (Verbesserung des Gesetzes) ein, das die Praxis willkürlicher Ausweisungen von Bürgern des Norddeutschen Bundes durch die Polizei, wie sie in Preußen nicht selten vorkommen, beenden soll (Nr. 35 der Reichstagsdrucksachen):

Der Reichstag wolle beschließen:

im § 10 hinter Alinea 4 nachstehendes Alinea 5 hinzuzufügen:

Polizeiliche Ausweisungen und Untersagungen des Aufenthalts an irgend einem Orte des Norddeutschen Bundes sind gegen Angehörige desselben nur zulässig auf Grund gerichtlicher Erkenntnisse, welche dazu ermächtigen, oder, wenn der Betreffende die öffentliche Unterstützung in Anspruch nimmt, nach näherer Bestimmung der Gesetze über die Armenpflege.

Alle dem entgegenstehenden Privilegien einzelner Ortschaften werden hiermit aufgehoben.

von Kirchmann.

Zu beachten ist dabei, daß es zu diesem Zeitpunkt nur um die Abschaffung von Pässen und Visa geht. Die Freizügigkeit wird erst in einem zweiten Schritt durchgesetzt, welche Beschränkungen aufgrund der „öffentlichen Unterstützung“ ebenfalls abschafft und auch von der Deutschen Fortschrittspartei unterstützt wird. Die Einschränkung im Antrag dient nur dazu, die beiden Fragen nicht an dieser Stelle zu verquicken.

Der Abgeordnete der demokratischen und großdeutschen Sächsischen Volkspartei (und spätere Führer der Sozialdemokraten) Wilhelm Liebknecht möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und auch die Ausweisung von Ausländern mit denselben Ausnahmen unmöglich machen. Sein Amendement lautet (Nr. 39 der Reichstagsdrucksachen):

Der Reichstag wolle beschließen:

im Abänderungs-Vorschlage des Abgeordneten von Kirchmann (Nr. 35) die Worte:

“gegen Angehörige desselben”

(in der 3. Zeile des Vorschlags) zu streichen.

Liebknecht.

Es kommt nun zu einer Debatte, bei der von Kirchmann und Liebknecht ihre Amendements begründen. Nach ihnen erhebt sich der Führer der Nationalliberalen Eduard Lasker und befürwortet sowohl das Amendement Kirchmann als auch das Unter-Amendement Liebknecht mit diesen Worten:

Abgeordneter Lasker: Meine Herren! Ich werde Ihnen für Ihre Freundlichkeit mit recht kurzen Worten danken. Ich will sowohl das Amendement des Abgeordneten v. Kirchmann wie auch das Unter-Amendement, welches der Abgeordnete Liebknecht dazu gestellt hat, befürworten, und sehe mich noch ganz besonders veranlaßt, das letztere zu befürworten, weil der Herr Abgeordnete Liebknecht am Schlusse seiner Rede auf ein Gebiet sich verirrt hat, das mit dem gegenwärtigen Gesetz nicht im Zusammenhange steht, und das gegen sein Unter-Amendement vielleicht ein gewisses Vorurtheil hervorgerufen hat. Meine Herren, nach den Preußischen Gesetzen oder vielmehr nach den Preußischen Gewohnheiten — denn ein Ausweisungsrecht besteht in Preußen überall nicht — ist die Praxis der polizeilichen Ausweisungen an die Aufenthalts-Karten geknüpft worden. In einer Instruction des Ministers des Innern — ich glaube, sie rührt aus dem Jahre 1851 her — deducirt dieser: Weil die Fremden Aufenthalts-Karten nehmen müssen, so folge daraus, die Polizei könne die Aufenthalts-Karten verweigern, folglich auch die Fremden ausweisen, was gleichbedeutend sei mit der Verweigerung der Aufentha[l]ts-Karten. Diejenigen also, welche meinen, daß die Materie dem gegenwärtigen Paßgesetze fremd sei, sind nicht richtiger Ansicht. An der Stelle, wo die Gewährung der Aufenthalts-Karten aufgehoben wird, paßt es auch, die falsche Praxis der Polizei gesetzlich aufzuheben.

Das Amendement Liebknecht rechtfertigt sich meiner Ansicht nach ganz von selbst, ohne daß man gerade großdeutsche Gelüste damit in Verbindung zu bringen braucht; es rechtfertigt sich dadurch, weil es eine Art Barbarei ist, in dem gastlichen Rechte des Aufenthalts einen Unterschied zu machen zwischen Ausländern und Einheimischen. Nicht nur jeder Deutsche, sondern jeder Mensch hat das Recht, nicht wie ein Hund weggejagt zu werden. Da nun die gegenwärtige Regierung in Preußen, wie sie durch ihre Vertreter mehrfach hervorgehoben hat, daß sie die polizeiliche Praxis nicht liebt, der Mißbrauch der Ausweisungen aber, der in Preußen zu Tausenden gehandhabt worden ist, nur auf polizeilicher Praxis beruht, so dürfen wir auf ihre Zustimmung rechnen. Benutzen wir daher die erste Gelegenheit, den Mißbrauch abzuschaffen. Ich empfehle Ihnen dringend das Amendement Kirchmann nebst dem Unter-Amendement Liebknecht.

Die Nationalliberalen folgen aber ihrem Führer hierin nicht. Sowohl das Amendement Kirchmann als auch das Amendement Liebknecht werden vom Reichstag abgelehnt.

Wieviele würden bei offenen Grenzen kommen? – Einleitung

Sowohl für Befürworter als auch Gegner von offenen Grenzen ist von Interesse, was denn bei offenen Grenzen passieren würde. Das Mindeste wäre hier zu wissen, wieviele Menschen denn überhaupt wandern würden. Eine Vorhersage ist dabei allerdings alles andere als einfach, weil diverse Einflußgrößen in Betracht zu ziehen sind, die zudem noch miteinander in Wechselwirkung stehen können.

Etwa gibt es unterschiedliche Gründe, die Menschen zur Auswanderung antreiben (Push-Faktoren) oder eine Einwanderung interessant machen (Pull-Faktoren). Zur ersten Gruppe gehören beispielsweise Vertreibungen, Kriege und Bürgerkriege oder Regime, die die Bevölkerung unterdrücken. Motivationen für Einwanderung können absolute oder relative Unterschiede in der Entlohnung und Unterstützung, Möglichkeiten zur Weiterbildung, kulturelle Affinität und familiäre Bindungen sein oder einfach Abenteuerlust und Spaß an Veränderung. Umgekehrt sprechen je nachdem sprachliche oder kulturelle Gründe auch gegen eine Einwanderung, während viele Landsleute vor Ort diese erleichtern. Auswanderung wirkt wiederum auf die Herkunftsländer zurück, etwa durch Überweisungen in das Herkunftsland und technologische Transfers, was die weitere Auswanderung beeinflussen kann. Und dann gibt es unterschiedliche Fälle, ob ein einzelnes Land oder eine Gruppe von Ländern ihre Grenzen öffnet oder gemeinsam alle Länder weltweit, ob die Grenzen auf einmal aufgehen oder nur allmählich.

Da bereits bei den einzelnen Einflüssen große Unklarheit herrscht und noch mehr bei ihrem Zusammenwirken, kann man keine exakten Schätzungen erwarten mit Einwandererzahlen bis auf die Nachkommastellen. Hierzu müßte man ja zusätzlich noch fast alles über eine Welt wissen, die auch in anderen Hinsichten anders wäre als die heutige. Aber immerhin kann man versuchen, eine grobe Größenordnung für die zu erwartenden Wanderungsströme herzuleiten.

Dies soll in einer Serie von Artikeln angegangen werden. Vieles dabei mag verbesserungsfähig sein, aber irgendwo muß man ja anfangen. Der Plan ist hierbei der folgende:

Im ersten Artikel sollen zunächst einige allgemeine Überlegungen angestellt werden, warum man mit sehr hohen Zahlen von Wandernden rechnen kann oder aber auch mit eher niedrigen. Als erster Pfosten eines Scheunentors soll dann auf der einen Seite die sicherlich zu hohe Schätzung diskutiert werden, daß alle Bewohner ärmerer Länder, etwa sechs Milliarden Menschen, in die reichen Länder kommen. Auf der anderen Seite steht die zu niedrige Schätzung, daß sich gegenüber dem heutigen Zustand fast nichts ändern würde. Wie bereits angedeutet, sind die beiden Schätzungen von vornherein unplausibel. Es lohnt sich aber dennoch, darüber nachzudenken, warum das so ist.

Im nächsten Artikel soll es darum gehen, sich historische Beispiele anzuschauen. Schließlich gab es, auch wenn viele das vergessen haben, ja schon einmal eine Welt mit fast völlig offenen Grenzen, nämlich im 19. Jahrhundert. Allerdings muß man dabei im Auge behalten, daß sich seitdem einiges verändert hat: Mit Leichtigkeit kann jemand heute per Google Steetview bereits in einem anderen Land herumspazieren und sich über das Internet vielfältige Information beschaffen. Und auch die Kosten für den Transport sind heute wesentlich niedriger als im 19. Jahrhundert. Auf der anderen Seite erfordert eine Einwanderung mittlerweile mehr an Aufwand, etwa für bürokratische Formalitäten wie bei der Eröffnung eines Kontos oder beim Abschluß eines Miet- und Arbeitsvertrags.

Im dritten Artikel der Serie soll deshalb auf aktuelle Beispiele eingegangen werden. In Frage kommen hier Fälle von weitgehend offenen Grenzen, etwa im Schengenraum oder zwischen Indien und Nepal, sowie die Erfahrung mit interner Wanderung insbesondere in großen Ländern wie China oder Indien. Auch nur mäßig offene Grenzen können einen Anhaltspunkt bieten, was bei einer weiteren Öffnung passieren mag. Und dann kann man die Menschen auch direkt fragen, was sie gerne machen wollen, wie es etwa Gallup recht regelmäßig in weltweiten Umfragen tut.

Schließlich sollen dann die Ergebnisse zusammengetragen und gewertet werden, um zu einer Einschätzung der ungefähren Größenordnung zu gelangen, wieviele Menschen unter offenen Grenzen wohl wandern würden.

Keine Pässe, keine Visa – welches Land macht denn sowas?

Ein kleines Ratespiel. Das Land, um das es geht, hat ein Gesetz erlassen. Der erste Paragraph des Gesetzes sichert jedem Bürger zu, daß er weder beim Verlassen noch bei der Wiedereinreise und natürlich erst recht nicht beim Reisen innerhalb des Landes ein Reisepapier braucht.

Da es andere Länder gibt, die ein Reisepapier verlangen, hat jeder mit geringen Auflagen ein Anrecht, ein Reisepapier ausgestellt zu bekommen, wofür aber höchstens ein mäßiger Betrag als Gebühr verlangt werden darf.

Doch es kommt noch verrückter: Im zweiten Paragraphen des Gesetzes wird sogar allen Ausländern — ja, allen! — zugesichert, daß sie weder bei der Einreise, der Ausreise noch beim Aufenthalt im Land ein Reisepapier benötigen. Sie müssen sich nur, wie auch die Bürger, auf amtliches Verlangen hin über ihre Person ausweisen können. Niemand braucht zudem Reisepapiere vorlegen, um ein Visum zu bekommen.

Diese völlige Abschaffung aller Reisepässe und Visa kann nur unter ganz besonderen Umständen und vorübergehend ausgesetzt werden, etwa während eines Krieges oder bei Unruhen.

Welches Land macht denn sowas?

Am 17. September 1867 „beehrt sich“ der Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes Otto von Bismarck, dem Norddeutschen Reichstag ein „Gesetz über das Paßwesen“ zur Annahme „ganz ergebenst vorzulegen.“ Das Gesetz wird in nur wenig veränderter Form mit großer Zustimmung vom Reichstag angenommen.

„Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen“ verfügt das Gesetz dann „[u]rkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Bundes-Insiegel“ am 12. Oktober 1867. In Kraft tritt es per 1. Januar 1868. Mit der Reichsgründung 1871 wird die Geltung des Gesetzes auf ganz Deutschland ausgeweitet.

Das „Gesetz über das Paßwesen“ kommt dabei nicht aus heiterem Himmel. In der „Dresdner Konvention“ vom 21. Oktober 1850 ist bereits die Visumspflicht innerhalb Deutschlands abgeschafft worden. Im Jahr 1859 schließt sich Österreich-Ungarn dem Abkommen an. Allerdings benötigt man zum Reisen noch eine „Paßkarte“.

Am 7. Juli 1865 machen Bayern, Sachsen, Hannover und Württemberg den nächsten Schritt und schaffen Paßpflicht und alle Visa ab — auch für Ausländer. Dem schließen sich bald andere deutsche Staaten an. Der Norddeutsche Bund vollzieht dies dann zwei Jahre später nach. Allerdings ist Deutschland hier eher ein Nachzügler. Die Schweiz und Schweden haben Paßpflicht und Visa schon längst für alle Länder abgeschafft, Frankreich, Belgien und die Niederlande für andere Länder auf Gegenseitigkeit.

Aufschlußreich für den liberalen Geist der Zeit ist die Begründung in den Motiven zum „Gesetz über das Paßwesen“. Diese hält sich nicht lang mit Argumenten auf:

„[N]ach den Ansichten, welche in neuerer Zeit allgemein über diesen, einen großen Theil der Bevölkerung nahe berührenden Gegenstand sich geltend gemacht haben, werden weder die gleichmäßige Regelung des Paßwesens für das ganze Gebiet des Bundes durch ein Bundesgesetz, noch auch diejenigen Grundsätze einer besonderen Rechtfertigung bedürfen, von welchen allein bei dem Erlaß eines solchen Gesetzes ausgegangen werden kann. Es darf die freie Bewegung des unverdächtigen Reisenden nicht durch Maßregeln gehemmt und gestört werden, welche keinen anderen Zweck haben, als den Verdächtigen auf die Spur zu kommen, deren Anzahl gegen die stets wachsende Zahl der Reisenden überhaupt doch immer nur verschwindend klein ist; es mußte namentlich davon ausgegangen werden, daß der Paßzwang, welcher seit der außerordentlichen Vermehrung des Reiseverkehrs ohnehin nicht mehr durchführbar war, auch gesetzlich aufzuheben sei.“

Pässe und Visa seien sowieso überflüssig, so führen die Motive weiter aus:

„Bei der Beurtheilung des Entwurfs im Allgemeinen ist zunächst der Zweck desselben ins Auge zu fassen, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß durch die darin bundesgesetzlich ausgesprochene Aufhebung des Paßzwanges weder die Wirksamkeit der Polizei bei der Verfolgung wirklich gefährlicher Individuen beeinträchtigt, noch auch andere dem Paßwesen verwandte Institute, welche aber einen anderen Zweck verfolgen, beseitigt werden sollten. Der Entwurf bezweckt, den gewöhnlichen Reiseverkehr von den Unbequemlichkeiten und Belästigungen des Paßzwanges zu befreien. Niemand soll verpflichtet sein, bloß aus dem Grunde, weil er seinen gewöhnlichen Wohnort verläßt, sich mit Legitimationspapieren zu versehen und solche auf der Reise den verschiedenen Polizeibehörden zum Visiren vorzulegen.“

Die einzige Ironie des „Gesetzes über das Paßwesen“ ist nur, daß es ausgerechnet von Otto von Bismarck vorgelegt wird, der knapp zwanzig Jahre später daran gehen wird, die Grenzen wieder zu schließen und damit eine Entwicklung einleitet, die zu den späteren Zuständen mit „Unbequemlichkeiten und Belästigungen“ geführt hat.

Deutschland war also schon mal weiter. Und leider marschiert Bayern nicht mehr an der Spitze des Fortschritts. Aber die Geschichte ist ja noch nicht zuende.

Die Lösung der Rastlbinderfrage

Im Vorlauf zu den Reichstagswahlen 1881 formiert sich die sogenannte “Berliner Bewegung”, die versucht, die Deutsche Fortschrittspartei aus ihrer Hochburg Berlin herauszudrängen. Das Hauptmittel dieser Bewegung ist der Antisemitismus. So wird etwa eine “Antisemitenpetition” aufgelegt, in der als ein Punkt gefordert wird, Juden die Einwanderung nach Deutschland zu verwehren. Bislang hatte Deutschland fast völlig offene Grenzen gehabt. Doch das beginnt sich zu ändern.

So entdeckt die offiziöse “Post” im September 1881 eine neue Gruppe, die man zu einer Bedrohung aufbauen und auf der man herumhacken kann: die “Rastlbinder”. Vor allem arme Slowaken wandern durch Europa und versuchen sich, unter anderem in Berlin, durchzuschlagen als fliegende Händler und Handwerker. Nun sollen sie nach Meinung der “Post” ausgewiesen werden.

Dagegen stellt sich das von Julius Stettenheim redigierte Satireblatt “Berliner Wespen”, das seit längerem bereits die Antisemiten verspottet und der Deutschen Fortschrittspartei nahesteht:

Berliner Wespen, 21. September 1881

Zum Schutz der Industrie.

“Ihr armen Slovakenkinder,
Ihr schmutzigen Rastlbinder,
Die Ihr für Logis und Kost
Hausirt hier” — so spricht die “Post!” —

“Ihr schädigt sämmtliche Menschen,
Indem Ihr in vaterländ’schen
Erzeugnissen macht, zugleich
Aussaugend das deutsche Reich.”

“Auch Ihr mit dem Leierkasten
Vermehrt uns’re schweren Lasten ——
Der ganze ausländische Trupp
Muß über die Grenze per Schub!”

Ade denn, Ihr Vagabunden,
Und bis Ihr zum Leben gefunden.
Einen baaren Reptilienfonds,
Packt Euch! Pascholl! Allons!

Berliner Wespen, 28. September 1881

Der Rastlbinder.

Nach Forschungen der “Post”.

Wie der Rastlbinder aussieht. Schon im Aeußern verräth der Slovake die ungeheuren Reichthümer, in deren Besitz er sich durch fortgesetzte ungehinderte Aussaugung unserer deutschen Mitbürger zu setzen verstanden hat. Er ist groß und wohlbeleibt, seine Nase vom Weingenuß geröthet, um seinen Mund spielt das Lächeln des gewohnheitsmäßigen Sybariten, seine Haltung ist dandyhaft. An der Hand, mit der er seine Mausefallen feilbietet, bemerkt man Ringe mit blitzenden Solitärs.

Wovon der Rastlbinder sich ernährt. Hat der Rastlbinder den ganzen Tag über schlechte Geschäfte gemacht, so begnügt er sich mit einem einfachen Souper von sechs bis acht Gängen, welches er in einem bürgerlichen Vorstadtrestaurant einnimmt, und trinkt Moselwein dazu.  Hat er aber eine Blechpfanne verkauft, oder einen Topf geflickt, so verwendet er den Erlös sofort, um sich damit ein lukullisches Mahl bei Hiller oder Dressel zu bereiten, woselbst man allabendlich die Slovaken in langen Reihen prassen und schlemmen sieht.

Wo der Rastlbinder wohnt. Die geradezu fabelhaften Summen, welche die Slovaken für ihre Draht- und Blechwaaren zu erpressen verstehen, setzen sie in den Stand, trotz ihres schwelgerischen Lebens soviel zu erübrigen, daß Jeder von ihnen nach kaum einjährigem Aufenthalt in der Reichshauptstadt Eigenthümer einer Villa im Thiergarten wird, so daß man mit Sicherheit das Prognostikon stellen kann, Berlin W. werde in fünfzig Jahren entweder verrastlbindert oder verdrehorgelt sein.

Wie die Rastlbinderfrage zu lösen ist. Die einzig radicale Lösung ist von den Forschern der “Post” bereits vor einigen Tagen in der polizeilichen Ausweisung der Slovaken gefunden und damit begründet worden, daß es nicht abzusehen sei, warum wir unser Vaterland durch fremde Rastlbinder aussaugen lassen sollen. Erscheint diese Maßregel zu hart, so müßten von Seiten der Behörde mindestens folgende Anordnungen getroffen werden: Es wird den Rastlbindern untersagt, sich ihre schlechten und billigen Waaren von den Käufern mit Gold aufwiegen zu lassen. Es wird ihnen verboten, vier- und mehrspännig auszufahren und Vorreiter zu halten. Slovakische Gelage und Festivitäten dürfen nur im Beisein eines überwachenden Polizei-Lieutenants abgehalten werden. In den Theatern wird den Rastlbindern der Zutritt zum Parket und ersten Rang verwehrt. Durch derartige Einschränkungen könnte man diesen Aussaugern den Aufenthalt in unserm Vaterlande so verleiden, daß sie ihm von selbst in kürzester Frist den Rücken kehren würden. Damit wäre die Rastlbinderfrage gelöst.

[Dies ist eine Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 26. September 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Haben offene Grenzen die Weltgeschichte verändert?

Spielen wir einmal ein alternatives Szenario durch: Angenommen, jegliche Einwanderung von Deutschen nach Amerika wäre von Anfang an unterbunden worden. Grenzschützer hätten dafür eine Menge an Argumenten auf ihrer Seite gehabt: Deutschland war eine Brutstätte für allerlei kollektivistische Ideologien, die der amerikanischen Freiheit feindselig gesonnen waren: rabiater Nationalismus, Antisemitismus, Kommunismus und Nationalsozialismus. Der IQ von deutschstämmigen Amerikanern ist bestenfalls durchschnittlich. Deutsche Einwanderer paßten sich nur langsam an und hielten an der deutschen Sprache fest. Und dann natürlich absonderliche Verhaltensweisen, etwa daß Minderjährige Bier trinken dürfen. Usw. Gehen wir nun ins Jahr 1940 zurück.

Die USA hatten damals eine Bevölkerung von 132 Millionen, Deutschland inklusive Österreich eine von 79 Millionen. Die amerikanische Bevölkerung war also 67% größer als die “Großdeutschlands”.

Heutzutage geben 17% der Amerikaner an, aus Deutschland zu stammen, wobei man sich wohl meist am Namen orientiert, der auch aus Österreich kommen könnte. Da es nur eine geringe Einwanderung aus Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich mit anderen Gruppen gab, sollte der Anteil 1940 eher höher gewesen sein. Nehmen wir also an, daß ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung 1940 deutschstämmig war. Im alternativen Szenario würde die amerikanische Bevölkerung um 33 Millionen kleiner ausfallen, also nur noch 99 Millionen betragen. Fügen wir die 33 Millionen der deutschen Bevölkerung hinzu, so erhält man hingegen 112 Millionen. “Großdeutschland” hätte damit eine um 12% größere Bevölkerung als die USA gehabt. Das entspricht dem Eintritt einer  Großmacht von 66 Millionen in den Krieg auf der Seite der Achsenmächte.

Schlimmer: die drei Oberbefehlhaber der amerikanischen Teilstreitkräfte waren alle deutschstämmig. Natürlich nicht nur, sodaß es sie im alternativen Szenario vermutlich nicht gegeben hätte. Wenn doch, dann wäre General Eisenhower vielleicht eher Generalfeldmarschall Eisenhauer in der deutschen Armee gewesen. Genauso Chester Nimitz, nun als Generaladmiral Nimitz für die Marine, und Carl Andrew Spaatz für die Luftwaffe (als Generalfeldmarschall Karl Andreas Spatz, das zweite ‘a’ nahm er an, um die richtige Aussprache für Amerikaner klarzumachen, was in Deutschland unnötig gewesen wäre). Und mehr als eine Fußnote: William Patrick Hitler, der Halbneffe des Führers, hätte wohl auch kein Purple Heart für seinen Dienst in der amerikanischen Marine erhalten.

Es lohnt nicht, das alternative Szenario weiterzuspinnen und zu behaupten, die Achsenmächte hätten nun den Krieg gewonnen. Aber auch das Gegenteil zu argumentieren, scheint nicht ganz einfach zu sein. In einer Welt mit fest verschlossenen Grenzen für Bürger Deutschlands, Italiens und Japans müßte man auch noch Millionen deutscher Auswanderer und ihre Nachkommen aus dem britischen Weltreich, etwa Kanada, Australien und Neuseeland, zurückschicken. Und dasselbe für den nicht unbeträchtlichen Anteil italienischstämmiger Amerikaner.

Wie gut haben sich denn die grenzschützerischen Vorhersagen in der Wirklichkeit geschlagen? Eine fünfte Kolonne ins Land zu lassen, könnte ja desaströse Konsequenzen haben. Totales Ri-si-ko für die USA?

Nicht wirklich. Vorfälle von Verrat und Illoyalität waren eine verschwindene Ausnahme und die “Weihnachtserklärung der Männer und Frauen deutscher Abstammung” weitaus repräsentativer:

“[W]ir Amerikaner deutscher Abstammung erheben unsere Stimme und verurteilen die Politik Hitlers, kaltblütig die Juden Europas auszurotten, und gegen die barbarischen Taten der Nazis, die gegen unschuldige Völker unter ihrer Herrschaft begangen werden. Diese Greuel … sind besonders für jene wie uns eine Herausforderung, die wir selbst Nachkommen eines Deutschlands sind, das einst in der ersten Reihe der Zivilisation stand … [W]ir verwerfen jeden Gedanken und jede Tat Hitlers und seiner Nazis … [und rufen Deutschland auf,] ein Regime zu stürzen, das die Schande der deutschen Geschichte ist.”

Moral: Man kann auf Einwanderer als Menschen schauen, die vielleicht eine gewisse Loyalität ihrem alten Land und seiner Kultur gegenüber behalten. Wenn diese Kultur durch und durch kollektivistisch ist, wie es für Deutschland 1940 der Fall war, sieht das nicht gut aus. Die Anpassung mag langsam und unvollständig sein.

Doch das heißt, sich die Sache nur aus der begrenzten Perspektive eines einzelnen Landes anzuschauen. Sieht man sie sich auf globalem Niveau an, ist das Ergebnis anders. Sogar unvollständige Anpassung bedeutet, daß mehr Menschen weniger an ihren vorherigen Ansichten hängen, und es einige (und im Fall der deutschstämmigen Amerikaner sogar viele) gibt, auf die der Kollektivismus keinen Zugriff mehr hat. Offene Grenzen unterminieren den Kollektivismus.

Ist man also besorgt um die Freiheit der Welt auf lange Sicht, dann sollte man so viele Menschen wie möglich haben wollen, die nicht in kollektivistischen Gesellschaften festsitzen und durch totalitäre Staaten indoktriniert werden können, und so viele wie möglich, die der Freiheit ausgesetzt sind und eine Chance haben, ihre Meinungen in einer offenen Gesellschaft zu ändern.

Die Welt hat Glück gehabt, daß Freiheit und offene Grenzen für eine lange Zeit zusammengingen.

[Dies ist eine frei übersetzte und überarbeitete Version eines Artikels, der zuerst auf dem Blog Open Borders und dann dem Blog Freisinnige Zeitung erschienen ist.]

Einwanderungsland Preußen

Ab 1885 wurden auf Betreiben des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck im Zuge der “Polenausweisungen” 35.000 österreichisch-ungarische und russische Staatsangehörige, unter ihnen etwa 10.000 Juden, aus Preußen ausgewiesen. Die sogenannten “Überläufer” hatten oft seit Jahrzehnten dort gelebt, je nachdem Einheimische geheiratet (ihre preußischen Frauen verloren bei Heirat die Staatsangehörigkeit) und sich teilweise schon so weit als Preußen gefühlt, daß sie in der Armee gedient und an den Kriegen Preußens teilgenommen hatten, obwohl sie das gar nicht mußten.

Von Protesten nicht nur der Polen, sondern auch des katholischen Zentrums sowie aller Parteien der Linken, der Deutsch-Freisinnigen Partei, der Deutschen Volkspartei und der Sozialdemokraten, ja bisweilen sogar von konservativen Gutsbesitzern, deren Arbeiter abgeschoben wurden, ließ sich Bismarck nicht beirren. Angeblich ging es ihm darum, einer Polonisierung Preußens Einhalt zu gebieten. Aber selbst seine Anhänger bei den Konservativen und Nationalliberalen taten sich schwer, dafür die Argumente beizubringen. Als nächster Schritt wurde ein staatliches Aufkaufprogramm für polnische Güter auf den Weg gebracht und mit 100 Millionen Mark (etwa 1 Milliarde Euro nach Kaufkraft) dotiert.

Am 15. Januar und am 16. Januar 1886 kam es dann zu einer hitzigen Debatte im Reichstag. Die Mehrheit aus Deutsch-Freisinnigen, Deutscher Volkspartei, Zentrum, Sozialdemokraten und Polen verabschiedete schließlich eine Verurteilung der Maßnahmen, was von der offiziösen Presse als Sieg der “Reichsfeinde” gewertet wurde. Bismarck sorgte dafür, daß die Resolution des Reichstags im preußischen Landtag von seinen Unterstützern unschädlich gemacht wurde.

Seitens der Deutsch-Freisinnigen verurteilten die Ausweisungen Ludwig Bamberger, Ludwig Löwe, Heinrich Rickert und besonders eindringlich Julius Otto Ludwig Möller, der die Resolution der Partei, den Antrag Ausfeld und Genossen, begründete:

“Denn leider habe ich ja lieblose Aeußerungen hören müssen wie die: “Was gehen uns jene Fremden an? wer hat sie überhaupt geheißen, hierher zu kommen?” Ich will nun freilich die Frage ganz unerörtet und unentschieden lassen, ob diese Leute einen geschriebenen Satz des Völkerrechts zu ihrem Schutze anrufen könnten; das aber weiß ich doch, daß es ein Recht gibt älter und heiliger als alle geschriebenen Satzungen und Verträge, ein Recht, das schon heilig gehalten worden ist im Anfange aller Kultur: das Gastrecht! Und ich meine, daß es eines Volkes, welches, wie das deutsche, mit Recht stolz ist auf seine Kultur und seine Humanität, am allerwenigstens würdig sein kann, dieses alte heilige Recht zu verletzen oder auch nur ohne den entschiedensten Widerspruch verletzen zu lassen. Oder meinen Sie nicht, daß die gegenwärtigen Vorgänge einen Flecken auf den deutschen Namen werfen? (Sehr richtig! links.)”

Quelle: Digitale Sammlungen ULB Darmstadt

Die von den freisinnigen Politikern Eugen Richter, Ludolf Parisius und Hugo Hermes herausgegebene Wochenzeitung “Der Reichsfreund” — der Name bezog sich auf den Dauervorwurf, reichsfeindlich zu sein — begleitete die Ausweisungen mit einer Serie kritischer Berichte. So erinnerte man am 13. Februar 1886 daran, daß mit den Massenausweisungen die Tradition der Hohenzollern gebrochen wurde, die Preußen zu einem Einwanderungsland gemacht hatten:

Alte und neue Kolonisationen.

Die Hohenzollern kümmerten sich bei ihren Kolonisationen nicht um Religion und Nation ihrer Kolonisten — jeder ordentliche, fleißige Mann war ihnen recht, mochte er aus dem deutschen Reich oder aus Oesterreich, aus der Schweiz oder aus den Niederlanden, aus Italien oder Frankreich, aus Polen oder Rußland sein — mochte er Katholik oder Lutherisch oder Reformirt oder Griechischkatholisch, mochte er Hussit oder mährischer Bruder, Baptist oder Mennonit oder Phillipone oder Jude sein, mochte das Deutsche oder das Französische, das Italienische oder das Russische oder Polnische oder Tschechische seine Muttersprache sein. So hat der große Kurfürst in das verödete Brandenburg-Preußische Land Menschen hereingezogen — in die Kurmark z. B. durch Niederländer das “Holländische Bruch” bebauen lassen, in Berlin und anderen Städten durch französische Hugenotten eine nie gesehene Gewerbthätigkeit hervorgerufen. So hat Friedrich I. Waldenser, Pfälzer, Wallonen herangezogen, in Litthauische und Masurische Wüsten Schweizer verpflanzt. So hat Friedrich Wilhelm I., der freilich keine Polen und Juden leiden konnte, Ostfriesen und Niederländer und Polnische Mennoniten aufgenommen, auch 20,000 Salzburgern und den böhmischen Exulanten Besitzstand in Stadt und Land angewiesen. Friedrich der Große wünschte in Schlesien die Nationalitäten zu mischen, — wo alles polnisch ist, sollten nur Deutsche und in deutschen Gegenden polnische Leute angesetzt werden, aus dem Erzherzogtum Oesterreich und Steiermark, aus Böhmen, aus Ungarn und Siebenbürgen kamen sie gezogen, Italiener und Griechen — letztere aus Mazedonien, wurden nach Breslau berufen. Böhmen, die nur tschechisch sprachen, saßen in Rixdorf und Nowawes, Köpenick und Boxhagen bei Berlin, “Polnische Ueberläufer” erhielten sechsjährige Steuer- und Zollfreiheit. Dazwischen gab es eine Württembergische Kolonie und vom hessischen Amte Lichtenberg kamen an die 400 Familien nach der Neumark. In Westpreußen wurden alle Städte mit Auswanderern “meliert”. Die Schwabendörfer sind noch jetzt von den Polnischen auch äußerlich zu unterscheiden.

So früher. Jetzt werden erst an die 30,000 bis 40,000 Menschen, weil sie Oesterreichische oder Russische Staatsangehörigkeit haben, ohne Unterschied der Nation und der Religion ausgewiesen, und dann sollen durch viele Millionen Mark die Polnischen Güter ausgekauft werden, um an deutsche Ansiedler — nicht zur “Melirung” — sondern unter Ausschluß ehelicher Mischung — an Deutsche, die keine Polinnen heiraten, vergeben zu werden. Die deutschen Ansiedler dürfen nicht etwa “Deutsche” aus Oesterreich oder Rußland sein, — nein! nein! aus dem deutschen Reiche von Westen und Süden sollen sie auf polnischen Grund und Boden eingepflanzt werden.

Das stimmt alles herzlich wenig mit der alten Kolonisationspolitik der Hohenzollern — mit solchen Künsten wird der Reichskanzler keine Erfolge erzielen!

[Dies ist eine Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 27. April 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Wirtschaftsflüchtlinge 1881

1881 erreicht die Auswanderung aus Deutschland einen Höchststand mit 220.902 Emigranten. Eines der Schiffe auf der Route nach Amerika ist der Dampfer “Vandalia”. Am 19. Juni 1881 verläßt er Hamburg mit 1000 hauptsächlich deutschen Auswandern an Bord: Kurs New York.

Wie die neuseeländische Evening Post am 24. September 1881 berichtet, geschieht dann das folgende:

Drei Tage nach Ablegen versagt der Antrieb und die “Vandalia” treibt hilflos auf dem Meer westlich der Isle of Lewis umher. Da es keine Nachrichten gibt, wird befürchtet, daß das Schiff gesunken sein könnte. Doch dann wird die “Vandalia” von einem schwedischen Schiff entdeckt, das Hilfe holt. Die Versuche eines weiteren russischen Schiffs, die “Vandalia” in Sicherheit zu bringen, scheitern jedoch.

Als der Postdampfer “Express” den Dampfer wiederfindet, brechen die Passagiere in Jubel aus. Zusammen mit der größeren “Conqueror” wird die “Vandalia” am 7. Juli in Schlepptau genommen und nach Stornoway gebracht. Da es dort keinen sicheren Platz gibt, geht es weiter nach Greenock, wo man am 9. Juli 1881 anlangt. Den Passagieren wird angeboten, auf ein anderes Schiff umzusteigen. Sie bleiben aber der “Vandalia” treu und fahren mit ihr weiter nach New York.

File:Berliner Wespen.png

Das Satireblatt “Berliner Wespen” bedankt sich — ausnahmsweise ernst gestimmt — für die Rettung am 13. Juli 1881 mit einem Gedicht:

 

“Vandalia” und “Conqueror”

“Vandalia”, die wir glaubten schon verloren
Im Kampfe mit dem zornentbrannten Meer,
Sei uns gegrüßt, die Du wie neugeboren
Gerettet in den Hafen kommst daher.

Und lauter Jubel dringt zu unsern Ohren —
An die wir dachten schon so sorgenschwer,
Sie kehren heim, kein Einz’ger ist verloren.
O doppelt freudenvolle Wiederkehr!

Du aber, “Conqueror”, der Du als Retter
Erschienst, ein treuer Bote güt’ger Götter,
Und von uns nahmst der Sorge schwere Last.

Du bist Erob’rer, nicht nur wirst Du tragen
Den Namen, nein, Du bist’s nach kühnem Wagen
Da Du erobert uns’re Herzen hast!

[Dies ist ein leicht überarbeiteter Artikel, der zuerst auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” am 12. Juli 2012 erschienen ist.]

Lant Pritchett: Let Their People Come

Wie läßt sich die Armut in der dritten Welt lindern? Das ist die Frage, mit der sich Lant Pritchett in seinem sehr empfehlenswerten Buch Let Their People Come aus dem Jahre 2006 befaßt. Pritchett ist von Haus aus Ökonom, promovierte am MIT und arbeitete dann längere Zeit für die Weltbank. Aktuell lehrt er an der Harvard Kennedy School. Und sein Vorschlag ist, wie der Untertitel lautet: Breaking the Gridlock on Global Labor Mobility. Nicht allein sollte die Grenzen für Kapital und Güter, sondern auch für Arbeit geöffnet werden.

Das Buch beginnt mit einer Bestandsaufnahme, welche Tendenzen für einen wachsenden Druck sorgen werden, Grenzen für Arbeit zu öffnen. Diese werden als fünf “irresistible forces” diskutiert:

  1. Riesige Einkommensunterschiede besonders bei “unskilled labor”, die durch zwangsweisen Ausschluß aufrechterhalten werden.
  2. Unterschiedliche demographische Entwicklungen
  3. Die unvollendete Globalisierung, die Arbeit bislang weitgehend ausnimmt.
  4. Ein wachsender Bedarf an “low-skilled, hard-core non-tradables” — einfacher Arbeit, die nicht über Grenzen gehandelt, sondern nur vor Ort erbracht werden kann, z. B. Dienstleistungen von Frisören, Gärtnern, usw.
  5. Optimale Bevölkerungsgrößen, die sich über die Zeit ändern, und bei denen Abwanderung Druck vermindern kann.

Für den letzten Punkt gibt Lant Pritchett ein interessantes Beispiel: Im 19. Jahrhundert wanderte die Hälfte der irischen Bevölkerung bei offenen Grenzen ab. Dies führte dazu, daß für die verbleibenden Iren das Bruttosozialprodukt pro Kopf in etwa konstant blieb. Anders bei geschlossenen Grenzen:  Die bolivianische Bevölkerung wuchs ohne eine Abwanderungsmöglichkeit im 20. Jahrhundert weiter, obwohl die Grundlage für den vorherigen Wohlstand aus dem Abbau von Rohstoffen schwand. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf sank drastisch ab.

Einen ähnlichen Zusammenhang stellt Pritchett auch anhand der internen Wanderungen in den USA dar. Gewisse Landstriche locken wegen guter Entwicklungsmöglichkeiten Menschen an, aber verlieren diese je nachdem über die Zeit auch wieder. Da es aber keine inneren Grenzen gibt, paßt sich die Bevölkerung an die sich verändernden Bedingungen an. Menschen wandern von den uninteressanten in die interessanten Gebiete ab. Für die Zurückgebliebenen bedeutet das einen eher geringen Rückgang des Wohlstandes, weil Arbeitskräfte den lokalen Markt verlassen können. Auf nationaler Ebene ergeben sich zwar nicht gleiche, aber relativ ähnliche Lebensbedingungen. Manche Gebiete, Ghost Towns, werden sogar wieder ganz entvölkert, weil die wirtschaftliche Grundlage einfach verschwunden ist. Zöge man hier Grenzen ein, so würden sie sich stattdessen in etwas verwandeln, das Pritchett auf Länderebene als “Zombie Countries” bezeichnet: wirtschaftlich tote Gebiete, in denen Menschen festsitzen.

Auf globaler Ebene stehen einem solchen Ausgleich durch offene Grenzen allerdings starke Kräfte entgegen. Lant Pritchett faßt diese als acht “immovable ideas” zusammen und diskutiert deren Stichhaltigkeit:

  1. Nationalität als “legitimer” Grund für Diskriminierung, mit einem sehr treffenden Vergleich der Entrüstung über die Apartheid innerhalb Südafrikas seinerzeit, aber der vollkommenen Gleichgültigkeit über die viel größere globale Apartheid.
  2. Die “moralische”, jedoch eigentlich perverse Einstellung, daß Menschen nur in der Nähe nicht arm sein dürfen, aber gerne weit weg, wo man sie nicht wahrnehmen muß.
  3. Die geistige Fixierung auf das Wohl von Staaten und nicht von Menschen, z. B. wird jemand, der abwandert und sein Leben verbessert, nicht als Gewinn gesehen, sondern als Verlust für den betreffenden Staat.
  4. Die Illusion, daß man Menschen in ihrem Land festhalten und durch andere Mittel allein einen Ausgleich schaffen könnte, beispielsweise durch erleichterten Handel, bessere Mobilität von Kapital oder Entwicklungshilfe.
  5. Die Befürchtung, daß Löhne für Einheimische sinken würden und/oder die Arbeitslosigkeit wächst.
  6. Die Behauptung, daß Einwanderer die Staatsausgaben belasten.
  7. Sorgen um erhöhte Kriminalität und Terrorismus
  8. Und Argumente eines Culture Clashs: “They” are not like “us”.

Lant Pritchett argumentiert zwar gegen die acht Einwände, geht aber davon aus, daß diese sich auf absehbare Sicht als Einstellung des größten Teils der Bevölkerung in den entwickelten Ländern nicht ändern lassen. Von daher sucht er nach Möglichkeiten, im Sinne des Titels die verfahrene Situation zu durchbrechen.

Zunächst stellt er fest, daß die Einwanderung von qualifizierten Arbeitnehmern auf vergleichsweise geringen Widerstand in den entwickelten Ländern trifft. Das läßt sich recht leicht anhand der Standardeinwände erklären, weil hier zwar genauso Löhne durch Zuwanderung gesenkt werden könnten, aber eher für gut Verdienende, was als weniger bedrohlich wahrgenommen wird. Doch gleichzeitig hilft eine solche selektive Wanderung auch wenig, die Armut in der Welt zu lindern, weil die große Masse der Armen nur recht unqualifizierte Arbeit anzubieten hat.

Zu welch widersinnigen Erscheinungen die Beschränkung der Wanderung für wenig Qualifizierte führt, illustiert Pritchett an einem Beispiel: Er und sein Nachbar stellten eines Tages fest, daß sie sich beide einen kleinen Traktor für ihren Garten gekauft hatten. Beim zweiten Nachdenken ging Pritchett auf, daß die Entwicklung solcher Traktoren nur deshalb so interessant in den entwickelten Ländern ist, weil unqualifizierte Arbeit systematisch ausgeschlossen wird. Bei offenen Grenzen würde er wohl eher einen Gärtner einstellen, dem es viel besser als zuhause ginge, und sich seine eigene Zeit und Mühe sparen.

Lant Pritchettt wendet sich dann Versuchen zu, offenere Grenzen für Arbeit ähnlich wie bei der Öffnung der Grenzen für Güter und Kapital im Rahmen internationaler Abkommen auszuhandeln, insbesondere im Rahmen des “GATS mode 4″. Allerdings ist nach Pritchetts Einschätzung eine solche Vorgehensweise nicht sehr erfolgsversprechend, weil beispielsweise Regelungen wie die von “meistbegünstigten Ländern” mit den Vorbehalten der acht “immovable ideas” kollidieren. Er stellt deshalb mehrere Anpassungen vor, die die Widerstände umgehen könnten:

  1. Bilaterale Abkommen anstatt weltweiter Regelungen
  2. Zeitlich begrenzter Aufenthalt ohne regelrechte Einwanderung
  3. Quoten nach Berufsgruppen
  4. Verbesserung der Wirkung auf die Entwicklung des Ausgangslandes
  5. Einbeziehung des Ausgangslandes bei der Umsetzung
  6. Ausdrücklicher Schutz von Menschenrechten für die Wandernden

Nach den Argumenten der vorherigen Abschnitte ist klar, daß Lant Pritchett diese Vorschläge nicht macht, weil er sie für notwendig hält, sondern um auch bei Hinnahme der gängigen Einwände die Lage von armen Menschen zu verbessern. Beispielsweise könnten Vorbehalte wegen der Auswirkungen auf den inländischen Arbeitsmarkt entschärft werden durch eine entsprechende Quotierung, Vorbehalte gegen Einwanderung aus gewissen Regionen durch bilaterale Verträge oder eine zeitliche Befristung.

Leider — aber das ist nicht Pritchetts Schuld — könnte ein solches Regime, das er als Kompromiß anbietet, nicht der erste Schritt in Richtung offener Grenzen sein, sondern gleich der letzte, bei dem nur temporär und punktuell gewisse Lücken im inländischen Arbeitsmarkt gefüllt werden.

Ein historischer Vergleich wäre hier die Entwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Während der Norddeutsche Bund und dann das Kaiserreich eine der liberalsten Gesetzgebungen weltweit hatte, bei der praktisch jeder ohne weiteres einwandern konnte, kam es vermutlich nur aus innenpolitischer Taktiererei Bismarcks ab Mitte der 1880er Jahre zu einer harten Abschottung nach Osten, die ihren Höhepunkt in den Massenabschiebungen von Polen 1885/1886 erreichte.

Als selbst Konservative rebellierten, weil ihnen die polnischen und russischen Arbeiter auf ihren Gütern fehlten, bequemten sich die Nachfolger Bismarcks in den 1890ern zu einer Regelung, die dem Kompromißvorschlag von Pritchett ähnelte: Arbeiter durften nur zeitweise und nach Quoten in gewisse Regionen Deutschlands und mußten über den Winter wieder nach Hause zurückkehren; eine dauerhafte Einwanderung war nicht mehr möglich wie vorher. Und das war es dann auch. Dieses Regime wurde ab jener Zeit nur noch weiter institutionalisiert und perfektioniert. Zu einer Öffnung der Grenzen kam es nicht mehr.

Das soll aber die Leistung von Lant Pritchett keineswegs schmälern. Sein Buch enthält eine Fülle von guten Argumenten. Und er macht auch seine Position klar, die viel weitgehender ist und von der aus er nur einen Kompromiß sucht, um die Lage vieler Menschen auf absehbare Zeit zu verbessern. Vieles daran sollte nicht nur für ein amerikanisches Publikum, an das sich das Buch hauptsächlich wendet, von Interesse sein, sondern auch für ein europäisches.

[Dies ist eine leicht gekürzte Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 11. Juni 2012 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Einwanderung in die Sozialsysteme?

Als Argument gegen offene oder wenigstens offenere Grenzen wird häufig eingewandt, daß dies zu einer “Einwanderung in die Sozialsysteme” führe. Der vormalige Innenminister Friedrich und die CSU griffen dieses Schlagwort etwa in der letzten Zeit auf. Und nicht allein bei Konservativen ist eine solche Sicht beliebt, auch unter Liberalen wird sie häufig geteilt. Niemand Geringeres als Milton Friedman formulierte es so:

Because it is one thing to have free immigration to jobs. It is another thing to have free immigration to welfare. And you cannot have both. If you have a welfare state, if you have a state in which every resident is promised a certain minimal level of income, or a minimum level of subsistence, regardless of whether he works or not, produces it or not. Then it really is an impossible thing.

Heraus kommt bei Liberalen dann oft eine Position folgender Art: “Im Prinzip bin ich natürlich für offene Grenzen. Aber unter den gegebenen Umständen würde das zu einer Einwanderung in die Sozialsysteme führen. Von daher bin ich dagegen.” Effektiv bedeutet das, daß das “Prinzip” keinerlei Bedeutung hat und nur zur Beruhigung des liberalen Gewissens dient.

Dabei wäre eine einfache Auflösung des Problems auch anders denkbar: Man könnte Einwanderern keinen Zugang zu den Sozialsystemen gewähren, auf Dauer oder wenigstens für eine Karenzzeit, in der sie durch Abgaben und Steuern in Vorleistung gehen. Natürlich würde das auf das Gegenargument stoßen, daß der deutsche Staat ein “Menschenrecht” hochzuhalten habe. Doch derselbe deutsche Staat kennt ein solches “Menschenrecht” gar nicht. Klassischerweise ist das immer ein “Deutschenrecht” gewesen. Über die Zeit sind gewisse Gruppen hier gleichgestellt worden, etwa Ausländer, die mit Genehmigung des deutschen Staates in Deutschland leben. Der weitaus größte Teil der Menschheit bleibt aber auch so schon ausgeschlossen. Soetwas als “Menschenrecht”, das heißt als ein Recht, das jemandem qua Menschsein zukommt, zu bezeichnen, ist gelinde gesagt irreführend.

Doch was ist überhaupt dran an der Behauptung mit der “Einwanderung in die Sozialsysteme”?

Man kann hier natürlich auf Einzelfälle verweisen, bei denen von bestimmten Einwanderern Leistungen abgegriffen werden, ob innerhalb des rechtlichen Rahmens oder außerhalb davon. Doch mit Einzelfällen ist wenig bewiesen, solange man es nicht schafft, eine allgemeine Aussage aus ihnen abzuleiten. Einzelfälle gibt es ja auch für Deutsche. Jeder, der nicht blind durch die Welt läuft, hat solche schon einmal mitbekommen, etwa “Arbeitslose”, die sich schwarz etwas dazuverdienen.

Eine andere Argumentation versucht, die Frage apriori dadurch zu entscheiden, daß man den Bezug von Sozialleistungen als rationales Verhalten von Einwanderern schildert. Jemand, der aus einem armen Land kommt, dem muß es doch traumhaft vorkommen, sich vom Staat versorgen zu lassen auf einem weit höheren Niveau als zuhause. Doch wenn das rational ist, dann auch, daß jemand zum Arbeiten hierher kommt, mit dem er noch mehr bekommen kann. Man kann die Sinnhaftigkeit der Sozialsysteme hinterfragen, doch immerhin sind sie so beschaffen, daß sich durch Arbeit mehr an Wohlstand erreichen läßt als etwa durch Hartz IV. Wenn hier auch das Gefälle je nachdem nicht richtig sein mag und falsche Anreize schafft, dann gilt dies gleichermaßen für Einwanderer wie für Deutsche. Und dann sollte man seine Kritik auf eine Reform solcher Verhältnisse konzentrieren.

Apriori läßt sich die Frage allerdings auch gar nicht entscheiden, sondern nur empirisch. Es kann sein, daß sehr viele Einwanderer Leistungen in Anspruch nehmen oder auch nur wenige. Daß es welche gibt, ist noch nicht das Problem, nur wenn es so viele wären, daß die anderen Einwanderer, die in die Systeme einzahlen, das nicht kompensieren und somit von anderer Seite zugeschossen werden müßte, und das in einem erheblichen Ausmaß.

Deshalb zurück zur oben gestellten Frage: Wie steht es denn mit der “Einwanderung in die Sozialsysteme” aus?

Wenn man die Debatte verfolgt, hat man fast den Eindruck, als wenn es sich hier um ein großes Problem handelt. Schaut man sich die Zahlen an, dann wird man eines anderen belehrt. Dankenswerterweise hat die OECD nämlich dazu vor kurzem eine Studie, den “International Migration Outlook 2013”, vorgelegt, die unter anderem die fiskalische Nettoposition (Beiträge minus Leistungen) für Einwanderer in den zu ihr gehörenden Ländern darstellt. Das Ergebnis bestätigt die Befürchtungen nicht, im Gegenteil.

Es ist nicht ganz einfach, eine solche fiskalische Nettoposition zu berechnen, weil die Abgrenzung nicht unbedingt nur auf eine Weise geschehen kann. Man könnte sich dazu auf die ausländischen Staatsbürger im Inland konzentrieren. Das schmälert allerdings die Vergleichbarkeit, weil die einzelnen Staaten unterschiedlich leicht und oft einbürgern. Stattdessen werden von der OECD als Referenz die Menschen genommen, die im Ausland geboren wurden (“foreign-born”).

Hiermit ergibt sich folgendes Bild: Die fiskalische Nettoposition ist in allen OECD-Ländern von der Größenordnung her gering. Gemessen in Prozent vom Bruttoinlandsprodukt reicht die Bandbreite von -1,13% bis +2,02%. In 19 Ländern ist sie positiv, in zweien neutral und nur in fünf negativ. Für die OECD liegt sie durchschnittlich bei +0,35%. Es wird also netto von den Einwanderern in die Sozialsysteme eingezahlt.

Für manchen vielleicht verblüffend ist die Lage für Länder mit hoher Einwanderung besonders günstig. Luxemburg steht hier bei +2,02%, die Schweiz bei +1,95%. Auf dem dritten und vierten Platz folgen zwei Länder, aus denen eher Gejammer über Einwanderung zu vernehmen ist: Italien und Griechenland mit jeweils +0,98%. Mit anderen Worten: hier subventionieren die Einwanderer die Inländer. Auf den ersten Blick sieht die Situation für Deutschland schlecht aus mit dem Schlußplatz von -1,13%. Allerdings resultiert dies nur aus den Leistungen, die Einwanderer aus dem Rentensystem beziehen.

Nimmt man diese aus, so stellt sich ein anderes Bild ein: die fiskalische Nettoposition verbessert sich für die OECD auf +0,57% im Mittel. Es gibt nur noch drei Länder mit einer negativen Position, die auch im schlechtesten Fall (USA mit -0,51%) geringer ausfällt als inklusive Rentensystem. Luxemburg und die Schweiz stellen sich noch besser mit +2,2% und +2%. Für Deutschland ergibt sich nun ein positiver Saldo von +0,21%. Das ist auch eher die relevante Zahl, wenn es um in der Regel junge Einwanderer geht, die auf lange Sicht keine Renten beziehen werden. Um es zu betonen: diese subventionieren die Inländer, nicht umgekehrt.

Wie läßt sich der Unterschied zwischen den Zahlen mit und ohne Rentensystem erklären?

Ein großer Teil der auswärts Geborenen wanderte von den späten 50er bis in die 70er Jahre ein. Danach wurde die Zuwanderung aus politischen Gründen gedrosselt. Von daher finden sich unter den Einwanderern viele ältere Jahrgänge. Im Schnitt waren von 2007 bis 2009 die Haushaltsvorstände zu 33,5% zwischen 64 und 75 Jahren, zu 12,3% über 75 Jahre alt, sodaß gut 40% im Rentenalter lagen (vgl. Seite 171 der Studie). Allerdings  haben diese Menschen auch über lange Zeit in die Systeme eingezahlt. Und die Kinder und Enkel mit ihren Beiträgen fallen aus der Betrachtung heraus, da sie wohl meist in Deutschland geboren sind. Betrachtet man nur die ausländischen Staatsangehörigen mit ihrer jüngeren Altersstruktur, so ist der Saldo für diese auch positiv (siehe Seite 176).

Aufgrund der Altersstruktur sind die Zahlen für die einzelnen Aufwendungen nicht einfach vergleichbar, aber doch interessant. Einwanderer beziehen 30% weniger an Arbeitslosenunterstützung als Inländer und 40% weniger für Familienunterstützung, dafür 20% mehr an Sozialhilfe und 40% mehr an Wohnzuschüssen und Rente (siehe Seite 173). Hier nur die eine Seite zu nennen, wie es oft geschieht, verzerrt das Bild und unterstützt den Eindruck, als wenn einseitig nur Leistungen bezogen würden.

Um es zusammenzufassen:

  • Einwanderer zahlen in der OECD und den meisten ihrer Länder netto mehr in die Sozialsysteme ein, als sie erhalten.
  • Selbst wo die fiskalische Nettoposition negativ ausfällt, ist sie eher gering.
  • Der negative Saldo für Deutschland rührt vom Rentensystem und der Altersstruktur der Einwanderer her.
  • Beachtet man, daß ihre Nachkommen zwar einzahlen, aber meist aus der Betrachtung herausfallen und die heutigen Rentner über lange Zeit eingezahlt haben, dann relativiert sich diese Aussage weiter.
  • Die fiskalische Nettoposition wäre günstiger, wenn es mehr Einwanderung gegeben hätte. Wenn Deutsche sich darüber beklagen, dann müßten sie sich an die eigene Nase fassen, weil sie eine solche Politik oft selbst gefordert haben.
  • Fazit: Es hat bis jetzt netto eine “Einwanderung in die Sozialsysteme” eher auf der Zahlerseite gegeben. Das ist aber etwas ganz anders, als was oft suggeriert wird.

Nun kann man natürlich einwenden, daß das nur für die Vergangenheit galt, aber ab nun etwas anderes drohe. Bei völlig offenen Grenzen könne es anders aussehen. Es würde andere Menschen kommen, für die die Zusammenhänge anders wären. Etc.

Das ist natürlich alles möglich. Aber: Es spricht ja solange nichts dagegen, die Grenzen weiter zu öffnen, wie die Verhältnisse sich nicht umkehren. Daß Einwanderer die Inländer subventionieren, darüber braucht man sich nicht beklagen.

Und selbst wenn sich der Saldo ab einem gewissen Punkt umkehren würde und das in einem erheblichen Ausmaß, dann wären auch andere Vorschläge verfügbar, die nicht pauschal Einwanderung unterbinden: eine stärkere Ausgestaltung der Sozialsysteme zugunsten von denen, die arbeiten, sowie eine Beschränkung des Zugangs zu den Sozialsystemen für Einwanderer, sei es temporär oder, wenn es nicht anders ginge, dauerhaft.

Doch erst einmal müßte man ja ein Problem haben, bevor man es lösen muß.

[Dies ist eine leicht gekürzte Überarbeitung eines Artikels, der zuerst am 15. Oktober 2013 auf dem Blog “Freisinnige Zeitung” erschienen ist.]

Im Zweifel für offene Grenzen

Man kann offene Grenzen vertreten als ein unbedingtes Prinzip: In jedem Fall und unter allen Umständen sollten Grenzen offen sein. Wer das tut, hat den Vorteil, dass er sich niemals um den einzelnen Fall und seine Umstände kümmern muss, sondern von vornherein weiß, wie er jede Situation zu beurteilen hat.

Allerdings hat das einen Nachteil: Man muss dann auch konsequenterweise in jedem nur denkbaren Fall für offene Grenzen eintreten, auch dann, wenn es einem selbst vielleicht intuitiv nicht so zwingend erscheinen mag. Auf Englisch würde man sagen: You have to bite the bullet.

Dies ist die Stelle, an der viele Einwände gegen offene Grenzen ansetzen. Schon fast reflektorisch versuchen Gegner offener Grenzen extreme Fälle zu konstruieren, die die Forderung nach offenen Grenzen ad absurdum führen sollen. Um das Muster solcher Einwände selbst zu übertreiben, sei folgender Fall angenommen:

Eine stark ansteckende Krankheit befällt eine mit Massenvernichtungsmitteln bewaffnete Armee, deren Soldaten bereits vorher als ihr höchstes Ziel angesehen haben, die Bewohner eines Landes auszulöschen. Die Krankheit verwandelt die Soldaten in Zombies, die nun unter allen Umständen ihr Ziel umsetzen wollen und das auch ganz offen vertreten.

Darf man diesen Menschen den Zugang zu dem Land verweigern und dies auch mit Zwang durchsetzen?

Der Anhänger eines unbedingten Prinzips muß hier, ohne zu zucken, sofort sagen, daß er das ablehnt. Die allermeisten würden hingegen in diesem Fall wohl dazu neigen, offene Grenzen nicht gelten zu lassen. Die Forderung nach offenen Grenzen erscheint für Gegner, aber auch viele, die kein absolutes Prinzip anerkennen möchte, somit als absurde Prinzipienreiterei. Und der Gegner von offenen Grenzen meint, damit den entscheidenden Sieg davongetragen zu haben.

Eine Möglichkeit zu antworten, ohne ein unbedingtes Prinzip aufzugeben, wäre es, darauf zu verweisen, daß der konstruierte Fall gar nicht auftreten kann. Im obigen Fall waren die Annahmen tatsächlich so bizarr, daß sich das leicht argumentieren läßt. Aber wer im Prinzip auf offenen Grenzen besteht, muß auch prinzipiell jede Möglichkeit zulassen. Und dann kann man den Fall so weit abschwächen, daß sich die schiere Unmöglichkeit nicht mehr so leicht vertreten läßt. Einige nicht unübliche Varianten wären dabei etwa diese:

  • Was wäre denn, wenn jemand eine extrem ansteckende und tödliche Krankheit hätte?
  • Was wäre, wenn er mit Massenvernichtungsmitteln in das Land will?
  • Was wäre, wenn er erklärtermaßen die Vernichtung der Einwohner in dem Land vorhat?
  • Was wäre, wenn er Teil einer Okkupationsarmee, Terrorgruppe oder Bande ist, die gegen die Bevölkerung des Landes mit Gewalt vorgehen will?

Natürlich kann man dazu anmerken, daß solche Fälle selten sind. Aber zu argumentieren, daß sie niemals vorkommen können, ist wohl schwer. Und wird der Anhänger eines unbedingten Prinzips dann immer noch für offene Grenzen eintreten? Wohl vielen anderen würde das intuitiv so gegen den Strich gehen, daß sie dies für eine reductio ad absurdum von offenen Grenzen hielten.

Ist damit der Fall für offene Grenzen erledigt?

Nur wenn man davon ausgeht, daß es keine Ausnahmen unter irgendwelchen Umständen geben darf, unter denen offene Grenzen nicht gelten könnten. Was der Gegner von offenen Grenzen bis hierhin gezeigt hat, ist nämlich nur, daß man vielleicht gewisse Ausnahmen zugestehen muß.

Der Normalfall von Einwanderung ist aber eben nicht die atomwaffenschwingende Zombiearmee (außer vielleicht in der überspannten Rhetorik einiger extremer Grenzschützer). Der Normalfall ist ein Einwanderer, der nichts Schlimmeres vorhat, als für sich und seine Familie seine Lage zu verbessern, sei es in Freiheit zu leben oder seinen Wohlstand zu mehren, und der keinerlei Absichten hegt, gegen die Bevölkerung des Landes mit Gewalt oder auf andere unrechte Weise vorzugehen. Was hat denn der Gegner von offenen Grenzen für diesen mit den extremen Beispielen bewiesen?

Eigentlich gar nichts. Daß es in extremen Fällen Ausnahmen von offenen Grenzen geben könnte, beweist doch nicht, daß das auch im Normalfall so sein müßte. Warum sollte denn dem Einwanderer, der sein Leben verbessern will, ohne etwas Unrechtes vorzuhaben, unterstellt werden, daß er sich in einer Klasse mit den auf Ausrottung bedachten Soldaten einer Zombiearmee befindet und gerade so behandelt werden dürfte?

Von daher scheint folgende Position für offene Grenzen wesentlich besser im Einklang mit den moralischen Intuitionen vieler Menschen auf beiden Seiten der Frage zu sein:

Im Zweifelsfall sollten Grenzen offen sein. Ausnahmen sind nur zulässig in wohlbegründeten Fällen. Es gilt ein starker Vorbehalt für offene Grenzen. Die Regel sind offene Grenzen, die Ausnahme sind geschlossene Grenzen.

Der Nachteil mag an einer solchen Position sein, daß man sich auf Detaildiskussionen einlassen muß, was denn wohlbegründete Fälle sind, in denen offene Grenzen nicht gelten würden. Grundsätzlich wäre es sogar denkbar, daß man so viele dieser Fälle zugestehen müßte, daß Grenzen eher nicht offen wären, gemessen an einem abstrakten Maßstab. Dafür hat man aber auch den Vorteil, daß man ab jetzt von ähnlichen intuitiven Annahmen ausgehen kann wie die vieler anderer Menschen, inklusive vieler Gegner von offenen Grenzen, und der Vorwurf einer Prinzipienreiterei entfällt, die keine Rücksicht auf Gegebenheiten nimmt.

Eine solche Position ist dabei durchaus nicht die Bestätigung des Status Quo. Dieser geht nämlich von der umgekehrten Beweislast aus:

Im Zweifelsfall sollten Grenzen geschlossen sein. Ausnahmen sind nur zulässig in wohlbegründeten Fällen. Es gilt ein starker Vorbehalt für geschlossene Grenzen. Die Regel sind geschlossene Grenzen, die Ausnahme sind offene Grenzen.

Bei der hier angestellten Betrachtung ging es nur darum ein Prinzip „im Zweifel für offene Grenzen“ zu erläutern. Wie gesagt, könnte sich bei näherem Hinsehen herausstellen, daß daraus nichts wesentlich anderes als der Status Quo ergäbe. Daß das nicht so ist und daß eine Position „im Zweifel für offene Grenzen“ zu sehr anderen Schlüssen führt und eine große Veränderung gegenüber dem gegenwärtigen Zustand darstellen würde, das läßt sich nicht in ein paar Sätzen zeigen. Dazu muß man sich auf die Argumente für geschlossen Grenzen in bestimmten Fällen einlassen.

Es sei nur bemerkt, daß die obigen Einwände im Sinne einer Zombiearmee zu fast keinen Konsequenzen führen: Ja, in diesen Fällen mag es gute Gründe geben, die Grenzen auch mal geschlossen zu halten. Aber dafür sind diese Fälle auch wirklich eine extreme Ausnahme. Der Anhänger offener Grenzen kann diese Ausnahmen relativ einfach zugestehen, ohne daß sich praktisch viel an seiner Position gegenüber einer absoluten Position für offene Grenzen ändern würde.

Herzlich willkommen bei Offene Grenzen: Das Argument!

Seit dem 16. März 2012 gibt es die englischsprachige Website “Open Borders: The Case” , die sich um Argumente für offene Grenzen dreht, aber dabei auch nicht vernachlässigt, Argumente gegen offene Grenzen zu sammeln, zu sichten und Gegenargumente zu entwickeln.

Da das Interesse am Thema “Offene Grenzen” auch im deutschsprachigen Raum mehr und mehr wächst, erschien eine parallele Website auf Deutsch angebracht, die ab nun aufgebaut wird. Zunächst starten wir mit der bewährten Struktur und dem Material von “Open Borders: The Case”. Von daher sollte sich der Leser nicht wundern, wenn er je nachdem, zunächst sogar überwiegend, auf noch unübersetztes Material in Englisch stößt. Dieses soll Schritt für Schritt durch Übersetzungen oder Überarbeitungen in Deutsch ersetzt werden.

Auch eine gewisse Verschiebung des Fokus von einer amerikanischen hin zu einer deutschen oder europäischen Perspektive erscheint angemessen. Und es wird hier auch Material geben, das für ein globales Publikum weniger von Interesse ist, dafür für eines im deutschsprachigen Raum umso mehr. Im Sinne von offenen Grenzen ist mit dem Domänennamen “de.openborders.info” dabei keine Beschränkung auf Deutschland gemeint. Leser und Mitarbeiter aus Österreich, der Schweiz, Luxemburg und grundsätzlich alle, die auf Deutsch lesen und schreiben möchten, sind hier herzlich willkommen.

Wer Interesse hat, mitzuarbeiten, der melde sich bitte bei mir unter Hansjoerg_Walther@yahoo.com.