Bei der Frage, wie sich offene Grenzen und ein Wohlfahrtsstaat zueinander verhalten, gibt es zwei Denkrichtungen. Die eine geht davon aus, daß der Wohlfahrtsstaat bei offenen Grenzen stark wachsen würde; die andere unterstellt umgekehrt, daß der Wohlfahrtsstaat bei offenen Grenzen schrumpfen, ja sogar ganz verschwinden könnte. Je nachdem wird dies positiv oder negativ gewertet. Beide Seiten sind sich aber darin einig, daß große Veränderungen zu erwarten sind. Nur über die Richtung hat man eben verschiedene Ansichten.
Es soll hier nicht darum gehen, dieses große Thema anzugehen, was aber auf jeden Fall vorgemerkt ist. Ich möchte nur meine Einschätzung kurz festhalten: Ich denke, daß sich beide Seiten über die Größenordnungen täuschen. In welche Richtung es ginge, ist zudem apriori vollkommen unklar. Übersehen wird hier nämlich, daß es gegenläufige Effekte gibt und man von daher das Gesamtergebnis nicht durch ein paar Behauptungen erschließen kann.
Einerseits könnten Einwanderer grundsätzlich Leistungen des Wohlfahrtsstaates überdurchschnittlich stark in Anspruch nehmen. Dies könnte zu finanziellen Belastungen für die Staaten führen, die die betreffenden Programme in Frage stellen oder höhere Steuern nach sich ziehen würden. Auch ist denkbar, daß Einwanderer von Parteien eingebunden werden, die einen Ausbau des Wohlfahrtsstaates wünschen.
Andererseits ist die Bevölkerung in weniger homogenen Ländern in geringerem Maße dazu geneigt, den Wohlfahrtsstaat auszubauen. Für die, die man quasi als erweiterte Familie ansieht, würde man etwas geben, für Fremde nicht. Wie wenig die Solidarität etwa in Europa reichte, ließ sich beispielsweise an der Entrüstung über Zahlungen an Griechenland ersehen, die ja eigentlich einem „Länderausgleich“ innerhalb Deutschlands entsprechen würden. Und selbst unter Deutschen gibt es Murren, wenn Ostdeutsche, Bremer oder Berliner netto etwas herausbekommen. Einwanderer würden hier indirekt also für eine Beschränkung des Wohlfahrtsstaates sorgen.
Welcher Effekt nun überwiegt oder ob es noch weitere gibt, das ist längst nicht so selbstevident, wie beide Seiten meinen. Ich will das hier auch nicht entscheiden. Vielmehr möchte ich beiden Seiten jeweils einen Hinweis geben, wie sie ihre Meinung überprüfen können.
Für diejenigen die eine große Belastung durch eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ befürchten, möchte ich auf meinen Artikel mit selbigem Titel verweisen und sie beruhigen. Wenigstens unter den gegenwärtigen Umständen und mit den bisherigen Einwanderern verdienen die Staaten einen Überschuß, wenn auch keinen sehr großen. Der Einfluß von Einwanderern auf die aktuelle Politik scheint mir zudem gering zu sein. Einwanderer sind wenig organisiert und oft als Nichtwähler für Politiker relativ uninteressant. Auch wenn sich hier vermehrt Lobbygruppen formieren, ist eher bemerkenswert, wie spät und wie wenig dies geschieht. Im Vergleich zu anderen Interessenten sind Einwanderer nicht auffällig stark repräsentiert. Testfrage: Gibt es wohl im Bundestag mehr Abgeordnete, die ein Herz für die kleine Minderheit von Bauern haben, oder mehr Abgeordnete, die sich vor allem als Vertreter der größeren Minderheit von Einwanderern sehen?
Einen anderen Hinweis möchte ich denjenigen geben, die den Schwund oder sogar Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaats befürchten und deshalb gegen offene Grenzen argumentieren, wie es etwa der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz in seiner Rede im Thalia-Theater getan hat. Ihnen würde ich gerne einen humaneren Vorschlag als geschlossene Grenzen unterbreiten. Er stammt von William Niskanen, dem vormaligen und mittlerweile verstorbenen Chairman des Cato Institutes, und lautet sinngemäß:
Wenn man sich Sorgen macht um den Wohlfahrtsstaat, wieso will man dann eine Mauer um das Land bauen? Würde es nicht reichen, eine um den Wohlfahrtsstaat zu bauen? Und wäre das nicht humaner als eine Mauer um das Land?
Gemeint ist damit, daß die Leistungen des Wohlfahrtsstaats auf die Bürger beschränkt werden, Nichtbürger hingegen keinen, einen geringeren oder verzögerten Zugang hätten. In Europa wären hier wohl Bürger anderer Staaten der Europäischen Union gleichzustellen. Doch für Einwanderer aus anderen Ländern müßte das ja nicht gelten. Wie ein solcher Vorschlag konkret aussehen könnte, haben Alex Nowrasteh und Sophie Cole in einem Report des Cato Institutes für die USA durchgespielt: Building a Wall around the Welfare State, Instead of the Country.
Für Amerika sieht es dabei nicht viel anders aus als auch für europäische Länder: Einwanderer sind insgesamt Nettozahler in die Sozialsysteme. Von daher ist der Vorschlag wenigstens unter den gegebenen Umständen eigentlich überflüssig. Die Bevölkerung sieht das aber anders, auch wieder ganz ähnlich in den USA wie in Europa. Und das schafft Vorbehalte gegen offene Grenzen. Die Autoren argumentieren in ihrem Bericht von daher, daß eine Beschränkung Vorteile haben könnte. Indem man klar demonstriert, daß Einwanderer nicht die Sozialsysteme belasten, sondern sogar die Bürger subventionieren, konterkariert man die Stimmung in der Bevölkerung und macht diese gewogener für offene Grenzen.
Offene Grenzen aber würden weitaus mehr an Wohlstand schaffen, als es irgendwelche Transferprogramme je könnten. Und der Wohlfahrtsstaat würde durch eine solche Mauer geschützt werden, ohne daß man eine Mauer um das Land bauen müßte. Das wäre auf jeden Fall eine humanere Lösung, als vielen Menschen durch geschlossene Grenzen die Möglichkeit zu nehmen, sich durch ihre Arbeit aus Armut zu befreien und ihr Leben zu verbessern.
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